492 zu 127 – mit diesem satten Stimmenvorsprung wurde Manfred Weber am 8. November zum Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP) gewählt. 79 Prozent der Stimmen konnte Weber auf sich vereinen. Er setzte sich damit gegen den ehemaligen finnischen Ministerpräsidenten Alexander Stubb durch, der nur 20 Prozent der Delegierten des Parteikongresses in Helsinki von sich überzeugen konnte.

Niederbayern gegen Finnland

Das Ergebnis überraschte die wenigsten, erstaunlich war allerdings der massive Vorsprung des Deutschen. Der Abstand zwischen Jean-Claude Juncker und seinem damaligen Konkurrenten Michel Barnier bei der letzten Kür des EVP-Spitzenkandidaten 2014 war deutlicher enger gewesen. Und nach dem sehr engagiert geführten parteiinternen Wahlkampf hatten Beobachter auch diesmal keinen so klaren Sieg erwartet.

Stubb, der Politikwissenschaft studiert hat und ein halbes Dutzend Sprachen spricht, versuchte in seinem Wahlkampf, vor allem mit seiner Regierungserfahrung zu punkten: Neben Stationen als Außen-, Finanz- und Europaminister war Stubb auch finnischer Ministerpräsident. Der Ingenieur, Niederbayer und stellvertretende CSU-Vorsitzende Weber kann keinerlei Regierungserfahrung aufweisen, ist jedoch seit 2014 Fraktionsvorsitzender der EVP im Europäischen Parlament. Als solcher, so hob er in seinem Wahlkampf immer wieder hervor, habe er große Erfahrung als „Brückenbauer“ zwischen höchst unterschiedlichen Positionen innerhalb der recht diversen bürgerlichen und christdemokratischen Parteienfamilie. Sofort denkt man dabei natürlich an die aktuelle Gretchenfrage der EVP.

Gretchenfrage: Wie hältst Du es mit Viktor Orbán?

Stubb positionierte sich hier sehr klar und sprach sich für den Ausschluss von Viktor Orbans Fidesz aus der EVP-Parteifamilie aus, falls die ungarischen Delegierten eine Grundwerte-Resolution nicht unterschreiben würden. „Für Intoleranz habe ich null Toleranz“, so Stubb. Weber fährt in dieser Frage eher einen Schlingerkurs: Nachdem er sich zunächst lange einem Rauswurf der ungarischen Fidesz-Abgeordneten widersetzt hatte, stimmte er vor wenigen Wochen im Europäischen Parlament für den Sargentini-Bericht, der den Rat auffordert, wegen der „eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte der Europäischen Union durch Ungarn“ ein Verfahren nach Artikel 7 Absatz 1 EUV einzuleiten. Die Abstimmung innerhalb der Fraktion gab Weber jedoch frei. Auch jetzt setzt er weiterhin auf Dialog mit Ungarn.

Außer dem Unterschied im Umgang mit Orbán, der sein Land zu einer „illiberalen Demokratie“ umbauen möchte, gab es im Rennen zwischen Weber und Stubb mehr Gemeinsames als Trennendes.

Inhaltlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede

Dies mag überraschen, denn auf den ersten Blick schienen hier Welten aufeinander zu prallen: Auf der einen Seite der hippe, technikaffine, auf dem diplomatischen Parkett gewandte, jugendlich wirkende (tatsächlich aber vier Jahre ältere) Marathonläufer Stubb, auf der anderen der bodenständige Niederbayer Weber, der seine katholischen Wurzeln betont und sich vor allem als erfolgreicher und um Ausgleich bemühter Strippenzieher im Hintergrund betätigte. Inhaltlich besteht jedoch große Kongruenz ihrer Positionen und Visionen: Beide sind überzeugte Europäer, streben eine starke EU an, allerdings ohne Überregulierung im Kleinen, setzen sich, so beispielsweise im Schuldenstreit mit Italien, für eine strikte Haushaltsdisziplin ein und sehen Migration und schärfere Grenzkontrollen als ein zentrales Thema des kommenden Wahlkampfs an. Bezüglich der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind beide sehr skeptisch. Während Weber die Verhandlungen komplett abbrechen möchte, plädiert Stubb dafür, die Tür nicht ganz zu schließen.

Weber kann sein Wahlprogramm und das Programm der EVP nun im Mai 2019 als Spitzenkandidat zur Wahl stellen. Er wäre der erste Kommissionspräsident aus Deutschland seit Walter Hallstein, der die Kommission von 1958 bis 1967 leitete. Doch bevor Weber die Nachfolge von Jean-Claude Juncker antreten könnte, ist es noch ein langer Weg.

Wer ist noch im Rennen?

Zunächst müsste er sich natürlich gegen die Konkurrenten und Konkurrentinnen aus den anderen politischen Lagern durchsetzen. Die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) wird mit Frans Timmermans in den Wahlkampf ziehen. Der Niederländer ist Vizepräsident der Kommission und wurde von seiner Parteifamilie am 5. November für die Spitzenkandidatur vorgesehen. Sein Konkurrent, Kommissionsvizepräsident Maroš Šefčovič, hatte sich zuvor hinter ihn gestellt, so dass die offizielle Wahl von Timmermans zum SPE-Spitzenkandidat beim Parteikongress im Dezember zum Bedauern von Beobachtern ohne innerparteiliche Debatte erfolgen wird.

Bei der Allianz der Konservativen und Reformer in Europa (AKRE, sie stellt im Europäischen Parlament mit der ECR die derzeit drittgrößte Fraktion) machte Hans-Olaf Henkel den Weg frei für den tschechischen Europaabgeordneten und Skeptiker des Klimawandels, Jan Zahradil. 2014 hatten sich die Konservativen noch komplett gegen die Aufstellung von Spitzenkandidaten verweigert, auch jetzt äußerte Zahradil, dass er zwar Spitzenkandidat der Partei sei, damit jedoch nicht automatisch für das Amt des Kommissionspräsidenten kandidiere.

Die Europäischen Grünen (EGP) werden ihre Tandem-Spitze für die Wahl bei einem Parteikongress vom 23. bis 25. November in Berlin bestimmen. Ska Keller aus Deutschland, Bas Eickhout aus den Niederlanden und Petra de Sutter aus Belgien werden sich hier den Delegierten stellen, wobei Keller, die bereits 2014 als grüne Anwärterin für das Amt der Kommissionspräsidentin angetreten war, die besten Chancen eingeräumt werden. Es wird demnach auch mindestens eine Frau unter den Spitzenkandidaten sein.

Die Europäische Linke, die beim letzten Mal mit Spitzenkandidat Alexis Tsipras angetreten war, befindet sich noch im Auswahlprozess. Gute Chancen werden diesmal offenbar Gregor Gysi bescheinigt, dem aktuellen Präsidenten der linken Parteifamilie.

Matteo Salvini, stellvertretender Ministerpräsident Italiens und Politiker der Lega Nord, hat sein Interesse für die Spitzenkandidatur bei der Bewegung für ein Europa der Nationen und der Freiheit bekundet.

Einknicken vor Macron und der Hinterzimmerdiplomatie?

Hochinteressant ist, dass die Liberalen, die aktuell im Rahmen der ALDE die viertstärkste Fraktion im Europäischen Parlament bilden, vor wenigen Tagen beschlossen haben, auf die Nominierung eines Spitzenkandidaten oder einer Spitzenkandidatin zu verzichten. 2014 waren die Liberalen noch mit dem sehr engagierten Wahlkämpfer Guy Verhofstadt vertreten. Dass sie nun mit einem „Team“ von Kandidaten den Wahlkampf einläuten möchten, ist als Einknicken vor dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu werten. Am vergangenen Wochenende kündigte die von Macron gegründete Bewegung „La République en Marche“ an, für die Europawahl ein Bündnis mit den Europäischen Liberalen zu schmieden. Macron ist (wie übrigens auch andere Staats- und Regierungschefs) dezidierter Gegner des Spitzenkandidaten-Modells und präferiert die vor 2014 praktizierte Methode der Hinterzimmer-Diplomatie, wonach der Kandidat für das Amt des Kommissionpräsidenten von den Staats- und Regierungschefs ohne explizite Rückkopplung an das Ergebnis der Europawahl ausgesucht wurde.

Und in der Tat: Das Wort „Spitzenkandidat“ wurde seit der letzten Europawahl zwar in verschiedene europäische Sprachen als Germanismus und oft benutzter Hashtag übernommen, im Lissabonner Vertrag selbst kommt der Begriff jedoch an keiner Stelle vor. Abgeleitet wird der Spitzenkandidaten-Prozess von Artikel 17 Absatz 7 EUV, wonach der Europäische Rat dem Europäischen Parlament „nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor[schlägt]; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament“. Wie bindend diese „Berücksichtigung“ ist, darüber wird seit der letzten Europawahl immer wieder debattiert.

Europäisches Parlament als Königsmacher

Der politische Druck für das Spitzenkandidaten-Modell ist hoch. Das Europäische Parlament, das letztendlich durch seine Wahl des Kommissionspräsidenten bzw. der Kommissionspräsidentin als Königsmacher gilt, hat seine Position im Februar 2018 glasklar festgesteckt und warnt, dass es bereit sei, „jeden Kandidaten abzulehnen, der im Vorfeld der Wahl zum Europäischen Parlament nicht als Spitzenkandidat benannt wurde“. Zurecht wird im Bericht des Parlaments darauf hingewiesen, dass das Spitzenkandidaten-Verfahren das interinstitutionelle Gleichgewicht zwischen Parlament und Europäischem Rat widerspiegele und dass es die parlamentarische Dimension sowie die Transparenz der EU stärke. Die Europaparlamentarier betonten, „dass das Spitzenkandidaten-Verfahren das politische Bewusstsein der europäischen Bürger im Vorfeld der Wahl zum Europäischen Parlament fördern und die politische Legitimität sowohl des Parlaments als auch der Kommission stärken wird, indem ihre jeweilige Wahl enger mit der Entscheidung der Wähler verbunden wird.“ Dass mit dem Verfahren eine Politisierung der Europäischen Kommission verbunden ist, die keineswegs von allen gewünscht wird, ist nicht von der Hand zu weisen.

Bürger und Bürgerinnen wollen Spitzenkandidaten

Auch die Unionsbürger und -bürgerinnen nehmen den Spitzenkandidaten-Prozess laut Umfragen als positiv für die Demokratie in der EU wahr, wobei bei einer Befragung im Mai 2018 fast die Hälfte der Meinung war, dass das Verfahren die Wahlbeteiligung erhöhen werde. Und in der Tat wird die so genannte politikwissenschaftliche Trias aus polity, politics und policy ja oft erst durch die Personalisierung in Form von politicians als interessant wahrgenommen. Bei den Wahlen 2014 war zumindest in Deutschland, der Heimat des SPE-Spitzenkandidaten Martin Schulz, eine leicht höhere Wahlbeteiligung als zuvor zu verzeichnen. Für die gesamte EU lässt sich dieser Trend jedoch nicht konstatieren.

Angela Merkels Herz schlägt für Weber

Aktuelle Wahlprognosen sehen die EVP weiterhin als stärkste Fraktion im neu zu wählenden Parlament. Dass damit Manfred Weber als wahrscheinlicher Sieger aus der Europawahl hervorgehen wird, macht die Anwendung des Spitzenkandidaten-Verfahrens wahrscheinlicher, denn für diesen Kandidaten schlägt auch Angela Merkels Herz, wie sie jüngst beim Parteikongress in Helsinki bekundete. Somit wird auch die deutsche Kanzlerin, die bisher – gelinde gesagt – nicht als große Fürsprecherin des neuen Verfahrens in Erscheinung getreten war, vermutlich für dessen Anwendung eintreten. Bei einer Fraktionstagung in München im Juni 2018 hatte sich die EVP auch insgesamt für dieses Verfahren ausgesprochen.

Spannung bei der Schicksalswahl 2019

Fakt ist: Es bleibt spannend in diesen Monaten vor der Europawahl 2019. Zum einen stehen noch nicht alle Bewerber und Bewerberinnen um das Spitzenamt fest. So ist beispielsweise auch noch unklar wie sich die paneuropäischen Wahlbündnisse European Spring, Volt Europa oder Steve Bannons rechtspopulistisches „The Movement“ positionieren und in den Wahlkampf und die Spitzenkandidaturen eingliedern werden.

Spannung besteht zum anderen natürlich auch mit Blick auf das Wahlergebnis und die künftige Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Klar ist, dass das Parlament durch den bevorstehenden Brexit weniger Abgeordnete haben wird. Prognosen erwarten derzeit nicht unbedingt eine neue Anti-EU-Welle im Europäischen Parlament. Auch dies hängt damit zusammen, dass durch den Austritt Großbritanniens ein Gros der EU-Gegner auch das Europäische Parlament verlassen wird. Es ist jedoch zu erwarten, dass sich das Spektrum der EU-Skeptiker und EU-Gegner ausdifferenzieren und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch neu formieren wird. Bisweilen wird befürchtet, dass sich aus einem Zusammenschluss der EU-Gegner die größte Fraktion bilden könnte. Bis auf eine Ausnahme gab es im Europäischen Parlament seit Jahrzehnten immer eine informelle „große Koalition“ aus EVP und S&D. Sollte diese Koalition diesmal – wegen des zu erwartenden schlechten Abschneidens der Sozialdemokraten – nicht zustande kommen, bleibt abzuwarten, ob dies auch das Aus für Manfred Webers Traum von der Kommissionspräsidentschaft bedeuten wird.

In jedem Fall ist die Europawahl 2019 eine Schicksalswahl für die EU, die sich – hoffentlich gestärkt durch die Polykrise der 2010er Jahre – bereit machen sollte für die großen innereuropäischen und globalen Herausforderungen des neuen Jahrzehnts.