Am 9. Mai 2021 startete in Straßburg eines der innovativsten und ambitioniertesten Demokratie-Experimente der europäischen Geschichte. In einem offiziellen Festakt im Europäischen Parlament wurde die Konferenz zur Zukunft Europas eröffnet. Die Idee dazu reicht bereits einige Jahre zurück und wurde zuerst vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeschlagen. Seine Europakonferenz sollte mit Hilfe von sogenannten Bürgerpanels „einen Fahrplan für die Europäische Union festlegen [solle], indem sie die wichtigsten Prioritäten in konkrete Maßnahmen umsetzt“. Macrons Vorschlag wurde später von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrem Amtsantritt aufgegriffen. Ziel ist es, eine Möglichkeit zu schaffen, in der Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden können, wie die Europäische Union (EU) in die Zukunft gehen soll – eine weitere Beteiligungsmöglichkeit also, zusätzlich zu europäischen oder nationalen Wahlen.

Innovativ & ambitioniert?

Über die kommenden zwölf Monate hinweg werden EU-weit eine Vielzahl von Veranstaltungen organisiert werden, in denen EU-Bürgerinnen und Bürger in verschiedenen Formaten diskutieren, wie sie sich die Zukunft vorstellen. Den Anfang bietet eine mehrsprachige digitale Plattform, auf der Bürgerinnen und Bürger in allen europäischen Amtssprachen ihre Ideen vorbringen, miteinander diskutieren und verschiedene Vorschläge bewerten können. Dabei wird eine Fülle an Themen auf der Agenda stehen, von Gesundheitspolitik, über Klimawandel, soziale Ungleichheit, Digitalpolitik bis hin zur europäischen Außenpolitik. Das Motto ist: keine Tabus: Bürgerinnen und Bürger sollen offen über die Themen diskutieren können, die sie für wichtig halten.

Auf der Grundlage der Online-Diskussionen werden dann zahlreiche Bürgerräte jeweils eines der Politikfelder diskutieren, um konkrete Vorschläge zu erarbeiten. Diese Bürgerräte reichen von lokalen und nationalen Diskussionen bis hin zu Europäischen Bürgerräten, die parallel in allen europäischen Amtssprachen und unter stetigem Simultandolmetschen diskutieren werden. Teilnehmen sollen Bürgerinnen und Bürgern, die per Zufallsauswahl unter Berücksichtigung verschiedener Kriterien eingeladen werden; die Räte sollen so einen Querschnitt der europäischen Bevölkerung repräsentieren.

Schließlich werden die Ideen aus nationalen und europäischen Bürgerveranstaltungen zusammengetragen und in einer eigens eingerichteten Konferenz-Plenarversammlung diskutiert. Diese setzt sich aus Vertretern des Europaparlaments, der nationalen Parlamente, nationaler Regierungen, der Europäischen Kommission, des Ausschusses der Regionen und des Wirtschafts- und Sozialrates zusammen. Komplettiert wird das Gremium von Vertretern der Bürgerräte – ebenso ein Novum. Die Plenarversammlung verabschiedet zum Ende der Konferenz im Frühjahr 2022 Vorschläge, die von der Konferenzleitung in einem Bericht zusammengefasst werden. Dieser wird, so haben alle Akteure zugesichert, dann in konkrete Reformen fließen, die von den Europäischen Institutionen eingeleitet und umgesetzt werden.

Die Zukunftskonferenz soll damit ein europäisches Fest der partizipatorischen Demokratie, ein Ort der strategischen Neuausrichtung Europas werden – so ist zumindest der Plan, der aber aufgrund verschiedener Faktoren bereits jetzt an seine Grenzen stößt.

Lieber spät als nie?

So sollte die Konferenz eigentlich bereits vor einem Jahr, am 9. Mai 2020 beginnen. Obwohl die Verspätung anfangs durchaus durch den Ausbruch der COVID-19 Pandemie zu erklären ist – man hatte schlichtweg dringendere Herausforderungen zu bestehen – waren vor allem inter-institutionelle Streitigkeiten der Hauptgrund für die einjährige Verspätung. So vertraten vor allem das Europaparlament und Mitgliedstaaten grundlegend unterschiedliche Auffassungen, wie die Konferenz gestaltet und vor allem wie verbindlich Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger sein sollten: Während das Europaparlament hier einen sehr ambitionierten und verbindlichen Mechanismus vorschlug, befürworteten die Mitgliedsstaaten eher unverbindliche Konsultationen.

Die Vorstellungen der Mitgliedsstaaten bezüglich Bürgerbeteiligung und deren Verbindlichkeit erinnern dabei stark an die Bürgerbeteiligungsformate der Juncker-Kommission. Bereits im Jahr 2018 initiierte der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker umfassende Bürgerdialoge, wenn auch in weitaus geringerem Umfang und ohne ausgeprägte transnationale Ebene. Jedoch wurde der Bericht dieses Prozesses, abgesehen von einer kurzen Erwähnung in einer Erklärung des Europäischen Rates, weitgehend ignoriert – ein ernüchterndes Zeichen an alle, die an diesem Prozess teilgenommen hatten. Es ist daher keine Überraschung, dass sich die Mitgliedstaaten auch bei der nun eröffneten Konferenz zur Zukunft Europas für einen wenig verbindlichen Mechanismus einsetzten, der – laut eines  ersten Positionspapiers des Rates – ebenfalls lediglich in einem Report an den Europäischen Rat münden sollte.

Ein anderer Knackpunkt in den Verhandlungen war die Konferenzleitung. Der vom Europaparlament vorgeschlagene Guy Verhofstadt war den Mitgliedstaaten zu meinungsstark und vor allem zu föderalistisch. Über Monate hinweg konnte man sich hier nicht einigen. Schließlich fand man einen klassischen europäischen Kompromiss: Die Konferenzführung wird aus einem Trio bestehen, nämlich den Präsidenten der Institutionen, die auch am Verhandlungstisch saßen: Ursula von der Leyen, Parlamentspräsident David Sassoli und dem Regierungschef der amtierenden Ratspräsidentschaft, aktuell also Portugal. Eine Ebene darunter, im Exekutivausschuss der Konferenz, fand auch Guy Verhofstadt seinen Platz, der das Gremium gemeinsam mit der zuständigen EU-Kommissarin Dubravka Suica und aktuell der portugiesischen Europaministerin Ana Paula Zacarias leiten wird.

Aber auch nach der Einigung auf ein gemeinsames Gründungsdokument nahmen die Streitigkeiten zunächst noch kein Ende: Der Kompromisstext dieser Gemeinsame Erklärung löste nämlich keinesfalls die grundlegend unterschiedlichen Positionen der Institutionen auf, sondern war in den entscheidenden Stellen lediglich vage formuliert, um die vorherrschenden Diskrepanzen zu überbrücken. Die Konsequenz dessen war, dass sich die Institutionen auch weiterhin nicht über die genaue Ausgestaltung der Konferenz, der Arbeitsmethoden und vor allem über die Rolle der Plenarversammlung einigen konnten. Die letzten Dispute wurden erst am 7. Mai gelöst, sodass lange nicht klar war, ob die Konferenz wie geplant am 9. Mai starten kann – das tat sie dann glücklicherweise aber doch.

Anhaltender Machtkampf

Trotz der Einigung in letzter Minute besteht aber noch immer viel Uneinigkeit zwischen den Akteuren. Aus den anfänglichen unterschiedlichen Positionen ist mittlerweile ein Machtkampf geworden. Es geht darum, wer letztendlich das Sagen hat im Exekutivausschuss der Konferenz: Europaparlament oder Mitgliedsstaaten. Hier tobt weiterhin ein Machtkampf, der die Konferenz auch in den kommenden Monaten bestimmen könnte. Denn der Kompromiss vom 7. Mai sieht vor, dass Entscheidungen im Exekutivausschuss und in der Plenarversammlung im Konsens getroffen werden – jede Partei wird also die Möglichkeit haben, Entscheidungen zu blockieren– vor allem mit Blick auf die Plenarversammlung mit insgesamt 433 Sitzen könnten sich  konsensuelle Beschlüsse als ein Ding der Unmöglichkeit erweisen. Aus dem inklusiven Bürgerbeteiligungsprozess droht also eine politische Schlammschlacht zu werden.

Im schlimmsten Fall führt der erforderliche Konsens dazu, dass die Konferenz zu einer Art Quasselbude wird, deren Ergebnis auf dem niedrigsten möglichen Kompromisslevel beruht, und so in einer Erklärung ohne jeglichen konkreten Inhalt resultieren wird, Genau das ist die große Gefahr, der  sich die Konferenz ausgesetzt sieht: Verspricht man jetzt den Bürgerinnen und Bürgern einen Prozess, bei dem sie tatsächlich mitbestimmen können, wie die EU in die Zukunft geht und erzeugt damit große Erwartungen, ignoriert dann aber deren Vorschläge oder bricht sie aufgrund politischer Blockade so weit herunter, dass sie jeglichen konkreten Inhalt entbehren, dann erreicht man genau das Gegenteil des Erwünschten. Denn anstatt Aufbruch, Zuversicht und Vertrauen zu schaffen, würde ein solch halbherziger Prozess eher Misstrauen gegenüber der EU im Besonderen und Politikverdrossenheit im Allgemeinen befördern.

Statt konsensualen Kompromissen auf der niedrigsten Ebene benötigt die Konferenz vielmehr einen konkreten Output, ein Dokument, in dem sich die Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger tatsächlich wiederfinden. Vor allem aber benötigt sie ein konsequentes Follow-up der EU-Institutionen. Schließlich kann die Zukunftskonferenz alleine keine Änderungen der Gesetzgebung oder gar der Verträge erwirken – sie kann lediglich der Impulsgeber für diese Änderungen sein. Die Europäische Kommission, Mitgliedstaaten und Parlamente müssen also dafür sorgen, dass die Forderungen der Konferenz in die Tat umgesetzt werden.

Ende gut, alles gut?

All dessen sind sich die EU-Institutionen und Regierungen der Mitgliedstaaten natürlich bewusst. Trotzdem schützt dies nicht vor ungenügender Umsetzung, wie die Erfahrung der Bürgerdialoge im Jahr 2018 zeigteIm Gegensatz zu den Juncker‘schen Bürgerdialogen wird die Zukunftskonferenz nun aber von allen Institutionen und Mitgliedstaaten getragen – jeder sollte also ein Eigeninteresse haben, den Prozess so erfolgreich wie möglich zu gestalten.

In der Tat kann die Zukunftskonferenz noch immer ein erfolgreicher Prozess werden – und zwar dann, wenn sie ihrem eigenen Anspruch gerecht wird. Das Gründungsdokument der Konferenz spricht davon, „europäische Bürgerinnen und Bürger aus allen Gesellschaftsschichten und aus allen Ecken der Union“ einzubinden. Und genau das wird der Schlüssel zum Erfolg der Konferenz sein. Schafft man es nämlich wirklich, eine große Anzahl von Bürgern einzubinden, aus allen geographischen und politischen und sozialen Ecken der EU, dann trägt dies nicht nur zu Ergebnissen bei, die tatsächlich repräsentativ für die gesamte Union sind. In diesem Fall würde die Erwartungshaltung und damit auch der politische Druck so groß werden, dass die europäischen Entscheidungsträger gar keine andere Wahl haben, als den Vorschlägen der Bürgerinnen und Bürger die nötige Aufmerksamkeit zu schenken und somit in Reformen zu überführen. Der Weg dahin ist jedoch noch weit, denn aktuell ist die Konferenz vor allem noch ein Brüsseler Projekt, Bürgerinnen und Bürger ist die Zukunftskonferenz noch weitestgehend unbekannt. Stand Mitte Mai 2021 haben sich erst rund 10.000 Menschen konkret eingebracht und es ist vor allem die pro-europäischen Zivilgesellschaft, die hier den Ton angibt.  Im Zentrum der aktuellen Anstrengungen muss daher eine große Informationskampagne stehen, um die Beteiligungsmöglichkeiten in Europa bekannt zu machen und so eine größtmögliche Beteiligung zu erreichen.

Schließlich machen die Grabenkämpfe zwischen den Institutionen im Vorfeld der Konferenz eines deutlich: die Europäische Union hat Reformen – und dazu gehört auch eine Reform der Entscheidungsstruktur – bitter nötig.

Am Ende unterstreicht aber vor allem die aktuelle Lage die Wichtigkeit der Konferenz. Die Pandemie hat die EU, Mitgliedstaaten und jeden einzelnen vor neue wirtschaftliche und soziale Herausforderungen gestellt. Herausforderungen, für die man auf europäischer und nationaler Ebene auch weiterhin Antworten finden muss, etwa mit Bezug auf die konkrete Umsetzung von Next Generation EU; weitere Themen  von hoher Dringlichkeit sind die soziale Dimension der EU sowie die Gesundheitspolitik. Aber auch jenseits von COVID-19 befindet sich die EU aktuell inmitten eines großen gesellschaftlichen Wandels im Zusammenhang mit der Digitalisierung und dem Green Deal, den beiden Großprojekten der Europäischen Kommission. Dieser umfassende Wandel wird die Zukunft der Union auf Jahrzehnte bestimmen und hat somit einen großen Einfluss auf die Zukunft jedes einzelnen. Daher ist es dringend notwendig, die Antwort auf diese Fragen nicht nur im EU-Legislativprozess zu diskutieren, sondern im Zuge der Zukunftskonferenz europäische Bürger aus allen Ecken und Enden der Union in diese weitreichenden Entscheidungen miteinzubeziehen.