Der Gipfel des Europäischen Rates von Sibiu am 9. Mai, dem Europatag der Europäischen Union, sollte eigentlich die Ziele der Europäischen Union für die kommende Legislatur vorbereiten. Doch nicht die blumige Gipfel-Erklärung weist den Weg voraus, sondern die Pläne Emmanuel Macrons für eine Renaissance der EU nach den Wahlen zum Europäischen Parlament sowie seine Klima-Initiative. Ideen, auf die Deutschland eine Antwort finden muss.

Die Erklärung der 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union von Sibiu wurde, wie einige andere Erklärungen der jüngeren Vergangenheit des Europäischen Rates, in weniger als einer Minute angenommen. Die Staats- und Regierungschefs beschwören in ihrer Erklärung vor allem ihre Einigkeit:

  • „Wir bekräftigen, dass wir in dieser immer unbeständigeren und schwierigeren Welt geeint stärker sind.“
  • „Wir werden für ein Europa – von Ost nach West und von Nord nach Süd – einstehen.“
  • „Wir werden vereint durch dick und dünn gehen.“
  • „Wir werden immer nach gemeinsamen Lösungen suchen […].“

„Wir werden vereint durch dick und dünn gehen.“

Der Europäische Rat möchte hier sehr deutlich machen, dass er trotz aller Konflikte zusammensteht und gemeinsam vorangeht. In diesen Chor stimmt auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ein: „Der heutige Europäische Rat war einer der einfachsten, an dem ich je teilgenommen habe.“ Das lag aber auch daran, dass Ratspräsident Donald Tusk die Erwartungen an den Gipfel bereits im Vorfeld gedämpft und eher von „bescheidenen Erwartungen“ für die konkreten Zukunftspläne der EU gesprochen hatte. Wichtiger wäre der Juni-Gipfel nach den Wahlen zum Europäischen Parlament. Der Gipfel von Sibiu, der eigentlich den Aufbruch nach vollzogenem Brexit markieren sollte, erhält damit die Funktion, auf Kommendes einzustimmen: Auf das außerordentliche Treffen am 28. Mai – zwei Tage nach der EP-Wahl und eben auf den Juni-Gipfel. Tusks Ziel ist, spätestens dann die Top-Posten besetzt zu haben, um nicht eine Hängepartie wie 2014 erleben zu müssen. Dazu würde er auch die Möglichkeiten des Qualifizierten Mehrheitsentscheids ausnutzen.

Auch der Rest der Erklärung zeugt von einer gemeinsamen Aufbruchsstimmung, die angesichts der aktuellen politischen Realitäten zumindest verwundert:

  • „Wir werden unseren Lebensstil, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit weiterhin schützen.“
  • „Wir werden dort für Ergebnisse sorgen, wo es am wichtigsten ist.“
  • „Wir werden dem Grundsatz der Gerechtigkeit stets Geltung verschafften […].“
  • „Wir werden uns die Mittel an die Hand geben, mit denen wir unsere ehrgeizigen Ziele verwirklichen können.“
  • „Wir werden den nächsten Generationen von Europäerinnen und Europäern die Zukunft sichern.“
  • „Wir werden unsere Bürgerinnen und Bürger schützen und ihre Sicherheit wahren, […].“
  • „Europa wird seine globale Führungsrolle verantwortungsbewusst wahrnehmen.“

Dies sind alles Punkte, die so oder so ähnlich bereits in der Bratislava-Erklärung 2016 angesprochen worden waren und damals als verheißungsvoller Neustart interpretiert wurden. Heute diese politischen Zielvorstellungen zu wiederholen deutet daher vor allem darauf hin, dass die Uneinigkeit der 27 Mitgliedstaaten einen tatsächlichen Aufbruch bisher behindert hat. Politico hat die Fortschritte der Europäischen Union seit Bratislava analysiert und kommt zu einem gemischten Bild.

Interessanter als die gemeinsame Gipfel-Erklärung waren – wie so häufig – die Zwischentöne des Gipfels. Während einige Staats- und Regierungschefs für weniger Gipfeltreffen plädierten, brachte z.B. Bundeskanzlerin Angela Merkel den Vorschlag ein, dass sich der Europäische Rat besser alle zwei Monate treffen sollte, um die Entwicklungen der EU zu beschleunigen. Weiterhin forderte der österreichische Kanzler Sebastian Kurz zum einen eine Reform des Vertrags von Lissabon, um auf die heutigen Herausforderungen angemessen eingehen zu können, und zum anderen einen Generationenwechsel in der Führungsriege der Europäischen Union. Besonders die Vorschläge von Kurz hätten in der Vergangenheit zu größeren Diskussionen führen können. Im Umfeld von Sibiu wurden aber andere Vorstöße kontroverser diskutiert, für die vor allem Frankreich Präsident Emmanuel Macron steht.

Macron fordert eine Renaissance (Wiedergeburt) der Europäischen Union

Ziel Macrons für die kommende europäische Legislatur ist die Bildung einer neuen Kraft der politischen Mitte im Europäischen Parlament. Diese solle gemeinsam mit den Mitgliedstaaten an einer Renaissance der Europäischen Union arbeiten. Denn genau dazu forderte Macron seine Kolleginnen und Kollegen in Sibiu erneut auf. Passenderweise wurde auch die europäische Bewegung von La République en Marche auf diesen Namen getauft: Renaissance. Dass diese Kraft nicht an den Fraktionsgrenzen haltmacht, zeigt das Treffen der ALDE-Gruppe in Straßburg kurz nach dem Sibiu-Gipfel. Hier waren neben den klassischen Vertretern, Open VlD (Belgien) um Guy Verhofstadt, FDP und VVD (Niederlande) unter anderem auch die italienische Partito Democratico und die portugiesische Partido Socialista vertreten, die im aktuellen Parlament der sozialdemokratischen Fraktion angehören. Um interessierten Gruppierungen den Fraktionswechsel noch einfacher zu machen, denkt die ALDE rund um Verhofstadt sogar darüber nach, den besonders im südeuropäischen Raum verpönten Begriff „liberal“ aus dem Fraktionsnamen zu streichen.

Zwei Wochen vor den Wahlen zum Europäischen Parlament stellte Macron zudem noch klar: „Ich fühle mich überhaupt nicht an das Spitzenkandidaten-Prinzip gebunden.“ Seine Haltung und die der ALDE-Gruppe lässt sich auch unter dem Slogan „never Weber“ zusammenfassen. Damit stellt sich Macron offen gegen die deutsche Kanzlerin, die in Sibiu verlautbaren ließ: „Ich unterstütze Manfred Weber, damit das ganz klar ist.“ Während Merkel aber auch sagte, dass es keinen Automatismus in der Wahl des Kommissionspräsidenten geben dürfe und ebenso Donald Tusk in dieselbe Richtung denkt („Das ist der Schüssel. Kein Automatismus, aber guter Wille“), bekräftige EP-Präsident Antonio Tajani, dass ein Abweichen vom Spitzenkandidaten-Prozesses einem Angriff auf die demokratische Freiheit gleichkäme.

Das Spitzenkandidaten-Verfahren ist auch im Europäischen Parlament umstritten

Die Liberalen aber sehen im Spitzenkandidaten-Prozess eine unfaire Bevorzugung der EVP, da sie auf absehbare Zeit immer die stärkste Fraktion im Europäischen Parlament stellen werde und damit der konservative Kandidat die Europäische Kommission anführen würde. Es wird damit überdeutlich, dass das Prozedere, das sich das Parlament im Zuge der letzten Europawahlen 2014 hart erkämpft hatte, immer weiter an Zustimmung, auch innerhalb des eigenen Hauses, verliert. Nach den Rechtspopulisten, die schon immer klargemacht haben, dass sie die Entscheidung beim Europäischen Rat sehen, sind für die Wahlen 2019 auch die Liberalen weggebrochen. Ohne die Unterstützung von ALDE und Renaissance wird es aber jeder Kandidat schwer haben, für sich eine Mehrheit im Parlament zu finden – allen voran für Manfred Weber. Aktuelle Wahlumfragen zeigen, dass unter der Voraussetzung, dass das Vereinigte Königreich an den Wahlen teilnehmen wird, EVP und S&D aktuell gemeinsam mit 314 Sitzen rechnen können, womit sie mindestens weitere 62 Stimmen für eine Mehrheit benötigen (Quelle: Politico, Stand: 20. Mai):

  • Europäische Volkspartei: 168 Sitze
  • Progressive Allianz der Sozialdemokraten: 146 Sitze
  • Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa & Renaissance: 105 Sitze
  • Europäische Allianz der Völker und Nationen (Zusammenschluss aus ENF und EFDD): 73 Sitze
  • Europäische Konservative und Reformer: 57 Sitze
  • Grüne/Freie Europäische Allianz: 55 Sitze
  • Vereinigte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke: 51 Sitze
  • 5-Sterne-Bewegung und Brexit-Partei: 49 Sitze
  • neue Parteien und Fraktionslose: 47 Sitze

Wenn die liberale Fraktion nach den Europawahlen aber den Kandidaten der größten Fraktion nicht unterstützt und sich die beiden großen Gruppen nicht mit den rechtskonservativen bis rechtsradikalen oder anti-Establishment-Kräften zur Mehrheit verhelfen lassen wollen, die aktuell zusammen 179 Sitze erhalten würden, müssten EVP und S&D also auf die Stimmen von Grünen und Linke hoffen. Das gilt bei einem Kandidaten Manfred Weber als unwahrscheinlich. Allerdings ist noch nicht abzusehen, ob und wo sich die bisher große Gruppe neuer und fraktionsloser Parteien einsortieren wird. Ein weiteres düsteres Bild, das aktuell v.a. von Marine Le Pen gezeichnet wird, deren Rassemblement National aktuell die stärkste Kraft in Frankreich zu sein scheint, ist die Aussicht auf eine mögliche vereinigte euroskeptische „supergroup“, die alle europa-skeptischen bis -feindlichen Strömungen im Parlament bündeln und damit aktuell stärkste Kraft werden könnte. Mitentscheidend für das Abschneiden der Europaskeptiker und Europafeinde sind dabei auch die neu gegründete Brexit-Partei mit dem Parteivorsitzenden Nigel Farage, die Umfragen im Vereinigten Königreich deutlich vor allen anderen Parteien sehen. Höchst interessant wird aber auch, ob der Skandal um den mittlerweile zurückgetretenen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache nicht nur die österreichischen, sondern vielleicht auch die europäischen Rechtspopulisten insgesamt schwächen wird.

Barnier oder Vestager als die lachenden Dritten?

Von dieser komplizierten Lage könnten v.a. Brexit Chef-Unterhändler Michael Barnier oder Wettbewerbs-Kommissarin Margrethe Vestager profitieren. Während Vestager von der Gruppe der Liberalen getragen wird, hofft Barnier, dass er die Option sein könne, auf die sich alle verständigen könnten, falls es Manfred Weber nicht gelingt, eine Mehrheit im Parlament zu erzielen. Offiziell aber stellt Barnier die Nominierung Webers nicht in Frage. Helfen könnte ihm nach der Wahl aber seine herausgehobene Rolle während der Brexit-Verhandlungen, in denen er sich als stets exzellent vorbereiteter Vertreter der Europäischen Union profilieren konnte. Zudem hatte er regelmäßigen Kontakt zu den nationalen Machtzentren, die er auch während des EP-Wahlkampfes systematisch besuchte, um Reden zur Zukunft der Europäischen Union zu halten. Außenseiterchancen werden auch dem spanischen Außenminister Josep Borrell zugeschrieben, für den im Vorfeld des Sibiu-Gipfels Ministerpräsident Pedro Sánchez vehement eine Top-Position in Brüssel einforderte.

Aktuell scheint es so, also würde das Konzept der Spitzenkandidaten, das langfristig zumindest das Potential hatte, die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union mehr für Brüssels Politik zu begeistern, wieder begraben werden müsste. Verantwortlich dafür sind nicht nur die Staats- und Regierungschefs, sondern auch Teile des Europäischen Parlaments.

Weiteres Zögern der Bundesregierung im Klimaschutz

Der zweite große Macronsche Vorstoß in Sibiu betrifft die Klimapolitik der Europäischen Union. Frankreich legte gemeinsam mit Belgien, Dänemark, Luxemburg, den Niederlanden, Portugal, Schweden und Spanien ein Papier vor, das die CO2-Neutralität der Europäischen Union bis 2050 vorsieht, um die Klimaziele von Paris noch erreichen zu können. Das würde bedeuten, dass die EU ab diesem Zeitpunkt nur noch so viel CO2 ausstößt, wie sie auch speichern kann (z.B. über Aufforstung oder CO2-Speicher). Ein Vorschlag der Europäischen Kommission vom November 2018, der auf das gleiche Ergebnis abzielte, wurde im März 2019 noch vom Europäischen Rat abgelehnt und stattdessen die Ausarbeitung einer langfristigen Strategie bis 2020 ins Auge gefasst.

Deutschland, das lange Zeit von sich behauptete, innerhalb der Europäischen Union Vorreiter in Sachen Klima zu sein, ist allerdings nicht mit von der Partie. Nur Wochen nach der feierlichen Unterzeichnung des Aachener Vertrages, in dem sich der deutsch-französische Motor gegenseitig versicherte, gemeinsam an der Zukunft Europas arbeiten zu wollen, scheint es der französischen Seite dann doch zu langsam zu gehen. Man habe die Bundesrepublik selbstverständlich eingeladen, das Papier mitzugestalten und zu unterzeichnen, allerdings konnte die Unterschrift bis zum Sibiu-Gipfel nicht geleistet werden, weil sich die Bundesregierung intern zu lange habe abstimmen müssen. Da half auch Merkels Erklärung in Sibiu nicht viel. Sie unterstütze ausdrücklich „weite Teile dieser Initiative“ im Besonderen und im Allgemeinen, dass die europäischen Klimaziele ambitionierter ausfallen. Die Bundesrepublik könne aber nicht beitreten, weil sich die deutschen Klimaziele von denen der anderen Partner unterschieden. Merkel konkretisierte ihre Aussage einige Tage später während des Petersberger Klimadialogs, als sie sagte, dass die Klimaneutralität Deutschlands keine Frage des ob, sondern des wie sei. Ein Punkt sei beispielsweise, so Merkel im SZ-Interview vom 16. Mai, die CO2-Speicherung über CCS (carbon dioxide capture and storage), die in der Klima-Initiative vorgesehen sei, in Deutschland aber umstrittig ist. Fest steht jedoch, dass die fehlende Unterschrift zu seiner Klima-Initiative nun die nächste zögerliche Reaktion der deutschen Bundesregierung auf einen Vorstoß des französischen Präsidenten ist –  nach dem langen Warten auf die deutsche Antwort zur Sorbonne-Rede, die dann auch noch enttäuschend ausfiel, und nach der Absage von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer an viele weitere der ambitionierten Pläne Macrons.

Die deutsch-französischen Beziehungen vor ihrer nächsten Bewährungsprobe

Selbstverständlich würde es zu weit führen, die deutsch-französische Zusammenarbeit als überholt anzusehen, doch die Bundesregierung muss sich ernsthaft fragen, was sie in Europa noch bewegen möchte. Die Überschrift des aktuellen Koalitionsvertrages „Ein neuer Aufbruch für Europa“ wirkt jedenfalls zunehmend wie eine Farce. Ein wichtiger Aspekt ist sicherlich das Führungsproblem der CDU, in der weder Angela Merkel einen Weg für die Partei vorzeichnen will, der sie nicht mehr vorsteht, noch kann Annegret Kramp-Karrenbauer dem Bundeskabinett Politikvorschläge machen, dem sie nicht angehört. Doch auch die SPD kann sich nicht frei von Schuld sprechen. Die Sozialdemokraten besetzen unter anderem die Ressorts für Finanzen, Auswärtiges, Arbeit und Soziales sowie Umwelt. Ressorts also, die von Macron explizit angesprochen wurden und wo klare Antworten noch ausstehen.

Doch gerade im Bereich Klima und Umwelt wäre ein proaktiveres Vorgehen nicht nur wünschenswert, sondern wird auch von der Bevölkerung gefordert. Neben den anhaltend großen Demonstrationen zu Fridays for Future zeigt eine Umfrage von YouGov, dass die deutschen Befragten den Klimawandel als die größte aktuelle Herausforderung sehen, noch deutlich vor Migration. Zudem gaben 70% der deutschen Befragten an, dass die EU-Mitgliedschaft positiv für Deutschland sei. Die Ideen, Europa nach vorne zu bringen sind vorhanden, die Unterstützung der Bevölkerung – insbesondere im Bereich der Klimapolitik – ebenso. Was fehlt, ist eine Bundesregierung, die den Mut hat, anzupacken und die Weichen in Richtung Zukunft zu stellen.