Seit dem 8.12.2021 hat Deutschland erstmals eine Bundesregierung, die aus den drei Parteien Rot-Gelb-Grün besteht, seit 2005 erstmals wieder einen sozialdemokratischen Kanzler und eine Regierungsbeteiligung von Bündnis 90/Die Grünen. Die FDP, seit 2013 nicht mehr an der Macht,1 wird nun ebenfalls wieder Teil der Bundesregierung. Nach dem alles in allem überraschend guten Abschneiden der SPD, die mit ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz aus den Bundestagswahlen vom 26.9.2021 mit 25,7 Prozent der Stimmen als stärkste Fraktion hervorging, strebte sie sehr zügig Sondierungsgespräche mit Bündnis 90/Die Grünen an, die mit 14,8 Prozent der Stimmen drittstärkste Kraft im Bundestag geworden waren, sowie mit der FDP (11,5 Prozent). Eine rechnerisch mögliche erneute Koalition mit CDU/CSU (24,1 Prozent der Stimmen) wurde ausgeschlossen: Zu sehr hatte die SPD unter den insgesamt drei Großen Koalitionen der Ära Merkel gelitten (2005-2009; 2013-2017; 2018-20212), obgleich sie nicht wenige ihrer zentralen Vorhaben hatte verwirklichen können. Doch vermochte es die SPD nicht, diese Erfolge selbstbewusst und öffentlichkeitswirksam genug zu kommunizieren.

Nach der Bundestagswahl aber herrschte Aufbruchsstimmung. Recht zügig und unter großer, viel gelobter Diskretion wurde der Koalitionsvertrag einer Ampelregierung ausverhandelt, der am 24.11.2021 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Der Titel des 177 Seiten langen Vertrags lautet „Mehr Fortschritt wagen“, was zweifelsfrei an die erste Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt erinnern sollte, der 1969 bei Amtsantritt der ersten sozial-liberalen Koalition eine zukunftsfrohe Aufbruchsstimmung unter dem legendären Motto: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ beschworen hatte. Kann die Ampelkoalition nun ein vergleichbares magisches Momentum herbeizaubern für ihr groß angelegtes Transformationsprojekt, das in zahlreichen Bereichen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mehr Fortschritt wagen und erbringen soll?

Kann zusammen regieren, was nicht zusammengehört?

In Anlehnung an ein zweites berühmtes Diktum von Willy Brandt, der im Kontext des Vollzugs der deutschen Einheit versprochen hatte: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, ist nun zu fragen, ob zusammen regieren kann, was nicht zusammengehört. Trotz der großen Diskretion und Verschwiegenheit der Sondierungsgespräche und Koalitionsverhandlungen bestätigte sich wie erwartet im Verlauf der Zeit immer deutlicher, dass die drei Koalitionäre in etlichen Politikfeldern und Grundsatzfragen sehr weit auseinanderliegende, ja gegensätzliche Positionen vertreten, so zum Beispiel in der Frage der Steuerbelastung, der Verkehrs-, Klima- und Umweltpolitik, im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik sowie der Europapolitik.

Hier ist zunächst einmal zu betonen, dass in jeder Koalition, in einer Dreier- mehr noch als in einer Zweier-Konstellation, jeder der Partner Zugeständnisse machen und schmerzhafte Abstriche an der eigenen Ausrichtung, am eigenen Programm hinnehmen muss, um ein solches Bündnis überhaupt zu ermöglichen. Das ist zweifelsohne richtig. Und dennoch: Mitunter kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die betont motivierend-kämpferische Sprache des Koalitionsvertrags, seine zahlreichen Appelle und politischen Glaubensbekenntnisse diese krassen Gegensätze überspielen, ja übertünchen sollen. In der Tat sind viele gegensätzlichen Grundpositionen, die in den Wahlprogrammen der Ampelparteien schwarz auf weiß nachzulesen sind, im Koalitionsvertrag nicht aufgelöst, ihr mögliches Konfliktpotenzial nicht ausgeräumt, sondern lediglich entweder übergangen oder „weggeschwurbelt“ worden. Dies soll nun an einigen Beispielen im Bereich der Europapolitik dargelegt werden, wo mancherlei utopische Wünsche die Leerstellen überdecken und zentrale Gegensätze nicht ausgeräumt wurden.

Europa im Koalitionsvertrag der Ampel

Europapolitische Ankündigungen finden sich de facto über den ganzen Koalitionsvertrag hinweg verstreut. Hier jedoch soll kursorisch nur auf das einschlägige Kapitel VII Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt (S. 130-158) eingegangen werden.

Zunächst erfolgt eine klare Ansage: „Eine demokratisch gefestigte, handlungsfähige und strategisch souveräne EU ist die Grundlage für unseren Frieden und Wohlstand. Wir setzen uns für eine EU ein, die ihre Werte und ihre Rechtsstaatlichkeit nach innen wie außen schützt und entschlossen für sie eintritt. Wir werden eine Regierung bilden, die deutsche Interessen im Lichte europäischer Interessen definiert. Als größter Mitgliedstaat werden wir unsere besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen.“

Dies ist ein erfreulich eindeutiges und engagiertes Bekenntnis zu Europa, das sich mit den Formulierungen „demokratisch gefestigt, handlungsfähig und strategisch souverän“ auf der Höhe der Zeit befindet und die jüngeren Entwicklungen in der EU sinngemäß aufgreift. Interessanterweise verschmilzt der Koalitionsvertrag die in der derzeitigen Debatte um die internationale Rolle der EU üblichen Begriffe der „strategischen Autonomie“ und „europäischen Souveränität“ zu der Neuschöpfung einer „strategischen Souveränität Europas“. Was darunter zu verstehen ist, wird folgendermaßen ausbuchstabiert: In erster Linie müsse die eigene Handlungsfähigkeit im globalen Kontext hergestellt werden, um „in wichtigen strategischen Bereichen, wie Energieversorgung, Gesundheit, Rohstoffimporte und digitale Technologie, weniger abhängig und verwundbar zu sein, ohne Europa abzuschotten. Wir werden kritische Technologie und Infrastruktur besser schützen, Standards und Beschaffung daran ausrichten und ein europäisches Open Source5/6G-Konsortium initiieren. Europäische Unternehmen schützen wir besser gegen extraterritoriale Sanktionen.“ Bravo, Ampel!

Auch bei der Wahrung der Rechtstaatlichkeit kündigt der Koalitionsvertrag eine eindeutige, im Vergleich zur Vorgängerregierung härtere Gangart an, wenn die Kommission dazu aufgefordert wird, „die bestehenden Rechtsstaatsinstrumente konsequenter und zeitnah zu nutzen und durchzusetzen, auch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs“. Ohne Polen und Ungarn beim Namen zu nennen, wird hier klar, dass die Ampel die neuen Möglichkeiten des Rechtsstaatsmechanismus nutzen will, die 2020 im Kontext der Beschlüsse zu Next Generation EU geschaffen wurden (mehr hier und hier). Sehr gut, Ampel!

Ideenlose Ampel

Im Gegensatz zu diesen eindeutigen und mutigen Aussagen zu europäischer strategischer Souveränität und Wahrung europäischer Werte und Rechtstaatlichkeit verwundert die Passage, in der die Ampel ihre Ideen zur Weiterentwicklung der EU darlegt.

Hier heißt es: „Die Konferenz zur Zukunft Europas nutzen wir für Reformen. Erforderliche Vertragsänderungen unterstützen wir. Die Konferenz sollte in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen, der dezentral auch nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit organisiert ist und die Grundrechtecharta zur Grundlage hat. Wir wollen das Europäische Parlament (EP) stärken, z. B. beim Initiativrecht; vorzugsweise in den Verträgen, andernfalls interinstitutionell. Wir werden der Gemeinschaftsmethode wieder Vorrang geben, aber wo nötig mit einzelnen Mitgliedstaaten vorangehen. Wir unterstützen ein einheitliches europäisches Wahlrecht mit teils transnationalen Listen und einem verbindlichen Spitzenkandidatensystem.“

Diese lange Passage muss unterschiedlich kommentiert werden. Der zweite Teil, der konkrete Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU bereithält, enttäuscht. Denn diese Vorschläge liegen alle seit Jahren auf dem Tisch, sie sind europapolitische Gemeinplätze. Allerdings ist es – da sei explizit betont – gut, dass auch die neue Bundesregierung diese bekannten Reformideen umsetzen will; diese brächten der EU konkrete, beachtliche Fortschritte.

Für große Überraschung hat das Bekenntnis der Ampel zu einem „föderalen europäischen Bundesstaat“ gesorgt. In ihren Wahlprogrammen hatten die Grünen von einer föderalen europäischen Republik, die FDP von einem föderalen und dezentral verfassten europäischen Bundesstaat gesprochen – und nun strebt der Koalitionsvertrag einen „föderalen europäischen Bundesstaat“ an. Ist es nicht großartig, dass die Ampel nun zu dieser früheren Zielsetzung deutscher Europapolitik zurückkehrt,3 ganz im Sinne eines back to the future?

Und dennoch: Diese hehre Passage des Koalitionsvertrags muss kritisiert werden, und zwar als ideenlos und un-ambitioniert. Denn statt eigene neue Ideen zu entwickeln, setzt die Ampel anscheinend ausschließlich auf die „Konferenz zur Zukunft Europas“ und hofft, dass Europas Bürger sich einfallsreicher zeigen werden als die neue deutsche Regierung. Denn was taugt eine große Vision, wenn kein einziger beherzter, greifbarer Vorschlag zu ihrer Verwirklichung unterbreitet, keine Wege zum Ziel aufgezeigt werden? Beispielsweise eine Skizze der Institutionen, die künftig einen föderalen europäischen Bundesstaat regieren sollten? Wie würde der Regierungschef gewählt, wie wären die Beziehungen zwischen künftigem Bundesstaat zu Gliedstaaten/Mitgliedstaaten zu gestalten, welche Politikfelder stünden im alleinigen Zuständigkeitsbereich des Bundes etc. Dazu findet sich nicht ein Wort im sonst so wortreichen Koalitionsvertrag – dies zum Stichwort Leerstellen überdecken.

Uneinige Ampel

Zu der Kategorie „Gegensätze übertünchen“ gehören die Aussagen bzw. Nicht-Festlegungen zur Wirtschafts- und Währungsunion. Hier konnten sich die Koalitionäre nur auf interpretationsoffene Aussagen einigen: „Wir wollen die Wirtschafts- und Währungsunion stärken und vertiefen. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) hat seine Flexibilität bewiesen. Auf seiner Grundlage wollen wir Wachstum sicherstellen, die Schuldentragfähigkeit erhalten und für nachhaltige und klimafreundliche Investitionen sorgen. Die Weiterentwicklung der fiskalpolitischen Regeln sollte sich an diesen Zielen orientieren, um ihre Effektivität angesichts der Herausforderungen der Zeit zu stärken. Der SWP sollte einfacher und transparenter werden, auch um seine Durchsetzung zu stärken.“

Insbesondere bei der Frage der Zukunft des SWP fanden sich in den Wahlprogrammen der Koalitionäre gegensätzliche, nicht vereinbare Aussagen: Bei der FDP waren die Schlagworte: Begrenzung von Haushaltsdefiziten und Schuldenstand nach den Maastricht- Kriterien, Sanktionen für Haushaltssünder, keine Schuldenunion, Einmaligkeit der in der Corona-Krise erlaubten Aufnahme von gemeinsamen Schulden durch die EU-Kommission im Rahmen von Next Generation EU. Demgegenüber hatte sich die SPD in ihrem Wahlprogramm für eine Verstetigung des Wiederaufbaufonds als dauerhaften Integrationsfortschritt stark gemacht. Den SWP wollte sie zu einem Nachhaltigkeitspakt weiterentwickeln. Auch die Grünen wollen den Wiederaufbaufonds Next Generation EU verstetigen, um in wichtige Zukunftsbereiche zu investieren, den SWP zu einem europäischen Währungsfonds weiterentwickeln. Diese widersprüchlichen und vagen Aussagen konnten im Koalitionsvertrag nicht in kohärenten Zielsetzungen zusammengeführt werden. Und so konnte in der für die Zukunft der Gemeinschaftswährung, der Eurozone und der EU insgesamt so wichtigen Frage lediglich oben zitierte, weitgehend nichtssagende Passage die Zustimmung der hier so uneinigen Koalitionäre finden.4

Aus diesen Aussagen des Koalitionsvertrags jedoch lässt sich noch keine tragfähige oder gar innovative deutsche Position ableiten, wenn es demnächst um die Reform des SWP gehen wird, die die EU-Kommission derzeit vorbereitet.

Sind steile Lernkurven wiederholbar?

Seit der Konstituierung des neuen Bundestages am 26. 10. 2021 haben die nun ins Amt berufenen Koalitionäre in Sache Bekämpfung der Corona-Pandemie eine sehr steile Lernkurve hingelegt. Vor und unmittelbar nach den Bundestagswahlen vom September 2021 hatte die künftige Ampel – wie die amtierende Bundesregierung auch – allzu viel Nachsichtigkeit mit Impfgegnerinnen und Impfgegnern gezeigt, alle hatten zu lange zugelassen, dass diese Impfgegnerinnen und Impfgegnern Solidarität verweigern, den Freiheitsbegriff missbrauchen und in skandalöser Weise in individuelle Befindlichkeiten umdeuten konnten. Damit nehmen sie die Bevölkerungsmehrheit quasi in Geiselhaft. Denn die vierte Welle der Corona-Pandemie ist vorrangig die der Ungeimpften. Ein erst kürzlich verabschiedetes neues Bundesinfektionsschutz-Gesetzt musste bereits zwei Mal nachgebessert werden, noch unter der geschäftsführenden Bundesregierung zusammen mit den Ministerpräsidenten der Länder wurden am 2.12.2021 neue, strengere bundeseinheitliche Regeln beschlossen und eine Impfpflicht angedacht. Denn die neue Bundesregierung ist sich in den letzten Wochen bewusst geworden, dass sie ihr großes Transformationsprojekt, das insbesondere beim Klimaschutz, bei der Digitalisierung, bei einem nachhaltigen Umbau von Industrie, Mobilität, Bau und Landwirtschaft und in vielen weiteren Bereichen „mehr Fortschritt wagen“ will und muss, nur dann erfolgreich wird anpacken können, wenn sie Deutschland zuvor von der Corona-Pandemie befreien kann, die bei ihrem Amtsantritt besonders brutal grassiert. Bei dieser coronabedingten Lernkurve hatte vor allem die FDP viele fundamentale Lernleistungen zu erbringen.

Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Lernkurve tatsächlich zustande kam. Vielleicht wächst also auch in der Ampelkoalition zusammen, was künftig zusammen regieren wird? Vielleicht auch sind Koalitionsverträge das Papier kaum wert, auf dem sie ausgedruckt werden, weil sie von der Realität sehr schnell eingeholt werden. Jedenfalls ist zu hoffen und zu wünschen, dass die neue Bundesregierung eine ähnlich steile, sich an Notwendigkeiten orientierende Lernkurve auch in anderen Politikfeldern wie insbesondere der Europapolitik hinlegen wird. Europa wird es ihr danken. Und es ist zu hoffen und zu wünschen, dass die Ampel nach Überwindung oder zumindest deutlichen Eindämmung der Corona-Pandemie ihr breitangelegtes Transformationsprojekt angehen und erfolgreich umsetzen kann. Deutschland wird es ihr danken.

 

1 – 2013-2017 war die FDP nicht im Bundestag vertreten, 2017 gelang ihr der Wiederzug. 
2 – Die Bundestagswahlen hatten turnusgemäß am 24.9.2017 stattgefunden. Doch am 19.11.2017 platzten die Verhandlungen zu einer Jamaika-Koalition (Schwarz-Gelb-Grün). Der Vertrag für eine erneute Große Koalition lag dann erst am 7.2.2018 vor, am 14.3.2018 trat die Regierung Merkel IV ihr Amt an.
3 – Erst in der Ära Kohl wurde dieses Leitbild der deutschen Europapolitik der frühen Jahre aufgegeben, vgl. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet (Hrsg.): Deutsche Europapolitik von Adenauer bis Merkel, 2021
4 – Uneinig zeigt sich die Ampel auch im Bereich Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wo das höchst umstrittene 2 Prozent-Ziel der Nato keine explizite Erwähnung findet. Der Koalitionsvertrag drückt sich hier um eine klare Aussage mit der Formulierung: „Die NATO-Fähigkeitsziele wollen wir in enger Abstimmung mit unseren Partnern erfüllen und entsprechend investieren“. Hochinteressant und äußerst innovativ hingegen ist der 3-D-Ansatz (diplomay – defence – development): „Wir wollen, dass Deutschland im Sinne eines vernetzten und inklusiven Ansatzes langfristig drei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in internationales Handeln investiert, so seine Diplomatie und seine Entwicklungspolitik stärkt und seine in der NATO eingegangenen Verpflichtungen erfüllt“. Diese Idee findet sich im FDP-Wahlprogramm.