Mit fast 51% lag die Wahlbeteiligung deutlich höher als noch 2014 und so hoch wie seit 1994 nicht mehr. Die Demokratie innerhalb der Europäischen Union scheint noch am Leben zu sein. Das zeigen auch die Ergebnisse. Das Wahlergebnis verspricht eine Politisierung des Europäischen Parlaments, da die große Koalition aus EVP und S&D nicht mehr die absolute Mehrheit erzielen konnte. Dabei wurden auch die Rechtspopulisten gestärkt, aber deutlich weniger als vor den Wahlen befürchtet.

Die Gewinnerin der Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 ist die Demokratie selbst. Denn mit 50,95% liegt die Wahlbeteiligung deutlich höher als noch 2014. Seit 1994 gab nicht mehr ein so großer Anteil der Bürgerinnen und Bürger ihre Stimme ab und tatsächlich stieg die Beteiligung zum ersten Mal seit Einführung der Direktwahlen im Jahr 1979 – damals 62 % – wieder deutlich an. Das ist eine überaus erfreuliche Trendwende! Weitere Gewinner lassen sich nur bedingt feststellen. Die beiden großen politischen Gruppen, die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokraten, haben massiv an Stimmen und Sitzen (zusammen minus 80 Abgeordnete) im Europäischen Parlament eingebüßt. Doch auch der Siegeszug EU-skeptischer und -feindlicher Parteien hat nicht in dem Maße stattgefunden, den man vor den Wahlen befürchten musste. Die verloren gegangenen Sitze der beiden großen Fraktionen haben sich nicht auf eine neue Gruppierung konzentriert, sondern verteilten sich über das gesamte politische Spektrum, auch wenn die ALDE-Fraktion den größten Zuwachs verzeichnen konnte (+43 Abgeordnete). Das neue Europäische Parlament wird politisch ausgeglichener besetzt sein, da EVP und S&D nicht mehr die absolute Mehrheit stellen werden. Dies könnte eine große Chance zur Politisierung des Europäischen Parlaments und des Brüsseler Politikbetriebes mit sich bringen.

Die Grünen sind die Gewinner der deutschen Wahl

Im Vergleich zu den Umfragen gab es bei den Wahlen in Deutschland kaum große Überraschungen. Klare Verlierer sind die Volksparteien, während vor allem die Grünen und die Kleinstparteien als Gewinner angesehen werden können. Als desaströs muss das Ergebnis der SPD gedeutet werden. Die Sozialdemokraten erreichen gerade noch 15,8% der Stimmen, was ihnen 16 Sitze im neu gewählten Parlament einbringt. Damit verliert die Partei um Spitzenkandidatin Katharina Barley 11,7 Prozentpunkte (11 Sitze) und ist nach Union und Grünen nur noch drittstärkste Kraft. Doch auch die Union hat herbe Verluste hinnehmen müssen. Nur dank eines stärkeren Ergebnisses der CSU im Vergleich zu 2014 – das sich auch aus der Kandidatur Manfred Webers zum Kommissionspräsidenten erklären lässt – verliert die Union „nur“ 6,4 Prozentpunkte und fünf Sitze im Parlament. Die Grünen hingegen gewinnen 9,8 Punkte und stellen mit 21 Abgeordneten fast ein Drittel der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament. Sie profitieren dabei klar von der Schwäche der deutschen Volksparteien und können vor allem junge Wählerinnen und Wähler mit ihrem klimafreundlichen Programm anziehen.

Eine kleine Überraschung ist das Ergebnis der Alternative für Deutschland. Zwar kann die Partei mit ihren 11% ein Plus von 3,9 Punkten im Vergleich zu 2014 verzeichnen, was ihr insgesamt elf Sitze einbringt, aber die erwartete Steigerung auf 13% oder 14% konnte nicht realisiert werden. Damit bleibt die AfD auch hinter ihrem Ergebnis der Bundestagswahlen zurück. Dass mit der PARTEI (2 Sitze, 2,4%), den Freien Wählern (2 Sitze, 2,16%), der Tierschutzpartei (1 Sitz, 1,45%), der ÖDP (1 Sitz, 0,99%), der Familienpartei (1 Sitz, 0,73%), der neuen Bewegung Volt (1 Sitz, 0,67%) und der Piratenpartei (1 Sitz, 0,65%) sieben Kleinparteien in das Europäische Parlament einziehen und dabei zum Teil zwei Abgeordnete stellen, ist in dieser Größenordnung ebenfalls nicht erwartet worden. Die Parteien, die sonst nur unter „andere“ zusammengefasst werden, sind neben den Grünen die nächsten Gewinner der deutschen Europawahl.

Doch für die größte Überraschung sorgte die Wahlbeteiligung. Nach dem moderaten Anstieg auf 48,1% während der Wahlen 2014, haben dieses Mal 61,41% der deutschen Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben: ein Wert, der nur in den Wahlen 1979 und 1989 überboten wurde!

Rassemblement National wieder stärkste Kraft in Frankreich

Wenig Überraschendes gab es ebenfalls in Frankreich, wo die Wahlbeteiligung um 8,5 Prozentpunkte auf 50,12% angestiegen ist. Als großer Gewinner darf sich der Rassemblement National um Marine Le Pen fühlen. Zwar mussten sie leichte Verluste im Vergleich zu 2014 hinnehmen (minus 1,55 Prozentpunkte), doch bleibt die Partei mit 22 Mandaten stärkste Kraft. Die unter dem Namen Renaissance firmierende Bewegung Emmanuel Macrons erreicht 22,41% und kann somit 21 Parlamentssitze für sich verbuchen. Damit scheitert die Partei des französischen Präsidenten knapp daran, stärkste Kraft Frankreich zu werden. Dennoch gibt er sich mit dem Ergebnis zufrieden, was wohl auch aufgrund der Gelbwesten-Proteste nicht höher zu erwarten war. Auch die französischen Grünen schnitten mit 13,47 % und 12 Sitzen gut ab.

Verlierer der französischen Wahl sind die Republikaner. Sie erreichen nur noch 8,48% der Stimmen, was acht Plätzen im Europäischen Parlament entspricht. Die bereits vorhergesagten hohen Verluste wurden somit nochmals um fünf Prozentpunkte bzw. vier Sitze überboten. Schließlich konnte sich auch die Sozialisten nicht aus ihrem Tief herausarbeiten und verloren 8 Sitze. Mit nur noch fünf Abgeordneten konnten die sie auch ihr bereits schwaches Ergebnis der Wahlen 2014 nicht mehr bestätigten.

Im Vereinigten Königreich gewinnt die neue gegründete Brexit-Party

Obwohl das Vereinigte Königreich bereits am Donnerstag gewählt hat, musste auf das Ergebnis der Wahl am längsten gewartet werden. Erst spät in der Nacht auf Montag wurden die Wahlergebnisse veröffentlicht. Bei einer Wahlbeteiligung von 36,9% (1,3 Prozentpunkte höher als 2014) gewinnt die erst in diesem Jahr gegründete Brexit-Party um Nigel Farage mit 31,69% erreichten Stimmen 29 Sitze. Zweiter Gewinner der Wahl sind die Liberaldemokraten mit 16 Sitzen (18,53%). Wie erwartet ist sowohl die konservative Partei (-14,63 Punkte, -15 Sitze) als auch Labour (-10,66 Prozentpunkte, -10 Sitze) von den Wählerinnen und Wählern sehr herb abgestraft worden.

Italien mit klarem Rechtsruck: Lega dominiert die Wahl

Das Ergebnis in Italien bestätigt die nationalen Wahlen vom März 2018 dahingehend, dass die Lega und M5S (Fünf-Sterne-Bewegung) gemeinsam ein überaus starkes Ergebnis erzielen konnten, allerdings unter veränderten Vorzeichen. Während die M5S 2018 noch deutlich stärkste Partei war, kann sie ihr Ergebnis bei den Europawahlen nicht bestätigen. Mit 17,07% der Stimmen und 14 Sitzen erreicht die Partei sogar weniger als 2014. Dahingegen geht die Lega deutlich gestärkt aus den Wahlen hervor. Ihr Ergebnis von 28 Sitzen (+23 Sitze) und 34,33% der Stimmen (+28,18 Prozentpunkte) konnte sie die schwächelnde sozialdemokratische Partei deutlich auf Platz zwei verdrängen. Diese verliert 18,12 Prozentpunkte und 13 Sitze, was zu einer deutlichen Schwächung der S&D-Fraktion beiträgt.

Größte Gewinne und Verluste: Eine Auslese

Die Regierungskrise in Österreich konnte die ÖVP von Bundeskanzler Kurz ganz offensichtlich für sich nutzen. Während die FPÖ im Vergleich zu den Wahlumfragen mehr als 5 Punkte und damit einen Sitz verliert, kann die ÖVP um diese Werte zulegen. Die Freude darüber währte wohl nur kurz. Denn gemeinsam mit FPÖ und der Initiative Jetzt hat die SPÖ am 27. Mai ein erfolgreiches Misstrauensvotum im österreichischen Parlament durchgesetzt.

In Kroatien verliert die konservative Partei 2 Sitze und über 18 Prozentpunkte, während die Konservativen in Griechenland 11,3 Punkte und 3 Sitze hinzugewinnen.

Die anhaltende Kritik seitens der EU an der polnischen PiS-Regierung scheint sich eher positiv auf ihr Wahlergebnis ausgewirkt zu haben. Die PiS gewinnt im Vergleich zu 2014 4 Sitze und 10,6 Prozentpunkte, während der gemeinsam agierende Zusammenschluss aus fünf europafreundlichen Parteien 6 Sitze und 9,3 Punkte verliert. Immerhin stieg die Wahlbeteiligung auf 45,6% an, das ist fast eine Verdoppelung im Vergleich zu 2014.

In Rumänien wird die regierende sozialdemokratische Partei abgestraft und verliert fast 12 Prozentpunkte sowie 7 Sitze, während die neu gegründete Allianz 2020 aus dem Stand mit 23,9% der Stimmen zweitstärkste Kraft wird und 9 Sitze erringt. Noch stärker fällt das Ergebnis der neu gegründeten progressiven Allianz in der Slowakei aus. Sie erreicht 8 Sitze und erhält 40% der abgegebenen Stimmen*.

Die spanische sozialdemokratische Partei gewinnt im Vergleich zu 2014 sechs Sitze und 9,83 Prozentpunkte. Ähnlich große Gewinne konnten die liberalen Ciudadanos und die grüne Partei verzeichnen.

Überraschende Ergebnisse in den Niederlanden und in der Slowakei

Die Überraschung des ersten Wahltages war der Sieg der niederländischen Sozialdemokraten um den europäischen Spitzenkandidaten Frans Timmermans, die zwei Sitze und 8,7 Punkte im Vergleich zu 2014 zulegen können. Dagegen verliert die PVV um den EU-Feind Geert Wilders 3 ihrer 4 Sitze und 9,2 Prozentpunkte, genauso viel wie die linksliberalen Democraten66, die 2 Sitze abgeben mussten.

Die bereits erwähnte neu gegründete progressive Allianz in der Slowakei ist europaweit die Überraschung. Nach den Wahlumfragen wurden ihr 8% der Stimmen und ein Sitz im Europäischen Parlament vorhergesagt. Nach den Wahlen ist klar, dass sie 8 Sitze bekommen wird, weil sie nicht 8, sondern 40% der Stimmen verbuchen konnte*.

Rechtspopulisten stark, aber nicht übermächtig

Insgesamt konnten die EU-skeptischen bis -feindlichen Parteien zwar 19 Sitze zulegen (2014: 213 Sitze, 2019: 232 Sitze), doch die große Welle rechter Parteien hat das Europaparlament nicht überrollt. Vor der Wahl stand zu befürchten, dass sie in 17 der 28 Mitgliedstaaten mehr Abgeordnete als noch 2014 stellen, während ihre Zahl nur in fünf Ländern abnehmen sollte. Die Ergebnisse zeigen allerdings, dass die Rechtspopulisten „nur“ in 12 Ländern mehr Abgeordnete stellen als noch bei der letzten Wahl und in 10 Mitgliedstaaten weniger. Weiterhin hat die Idee einer rechten „supergroup“, die Marine Le Pen ins Gespräch gebracht hat, möglicherweise doch nicht das Potenzial, die größte Fraktion im Europäischen Parlament zu stellen.

Erfolge feiern konnten die EU-Skeptiker und -Feinde vor allem in Italien, wo die Lega für den zahlenmäßig größten Aufwuchs an Abgeordneten verantwortlich zeichnet. Besonders starke Ergebnisse erzielten sie außerdem in Frankreich (Rassemblement National), Ungarn (Fidesz), Polen (PiS) und im Vereinigten Königreich (Brexit-Party). In Belgien belegen mit der N-VA und Vlaams Belang sogar zwei rechte Parteien aus Flandern die ersten beiden Plätze.

Neben diesen Erfolgen mussten die rechten Parteien aber auch einige Verluste hinnehmen. So in Österreich, besonders durch die Ibiza-Affäre um den ehemaligen Vize-Kanzler Strache, in Dänemark (Danske Folkeparti) und der Niederlande (Partij voor de Vrijheid). Auch in Deutschland wuchsen die Bäume der AfD nicht in den Himmel. Zwar konnten die Rechtspopulisten mehr Stimmen erreichen als vor fünf Jahren, der Zuwachs fiel aber schwächer aus als erwartet.

Wer wird Kommissionspräsident?

Noch ist nicht hundertprozentig sicher, wie sich die nationalen Parteien in die europäischen politischen Gruppen einsortieren. Auf Grundlage der bisherigen Zuordnungen können aber zumindest vorläufige Zahlen erarbeitet werden. Wie bereits im Vorfeld der Wahlen prognostiziert, können EVP (178 Sitze) und S&D (145 Sitze) ihre absolute Mehrheit (376 Abgeordnete) nicht halten. Gemeinsam stellen sie 323 Abgeordnete, also 53 zu wenig, um gemeinsam einen Vorschlag für den Kommissionspräsidenten durchzusetzen.

Um Manfred Weber, dem Kandidaten der stärksten Fraktion, zu der Position zu verhelfen, benötigen die beiden Gruppen Stimmen der ALDE (112 Sitze), der Grünen (68 Sitze) oder der Linken (38 Sitze). Nachdem bereits all diese Parteien Bedenken gegenüber dem Deutschen geäußert haben, ist seine Wahl allerdings fraglich. Denn Weber hat bereits ausgeschlossen, sich von den rechtspopulistischen bis rechtsextremen Fraktionen (gemeinsam 177 Sitze) in das Amt helfen zu lassen.

Damit müssen die Staats- und Regierungschefs eine schwierige Entscheidung treffen, wenn es um die Verteilung der Spitzenpositionen der Europäischen Union geht. Es bleibt spannend in der EU.

(Alle genannten Zahlen im Beitrag stammen von politico.eu. Stand: 29. Mai 2019)

*Update 12. Juni 2019: Mit dem amtlichen Endergebnis in der Slowakei konnten die im Text genannten Werte nicht bestätigt werden. Die progressive Allianz hat demnach 20,11% der Stimmen und 4 Sitze im neuen Europäischen Parlament erhalten.