„Die Lage in Belarus verschlechtert sich weiter. Die Repression des Staates gegen die Bevölkerung hat nicht aufgehört. Heute haben wir vereinbart, mit den Vorbereitungen für die nächste Sanktionsrunde fortzufahren – als Reaktion auf die Brutalität der Behörden und zur Unterstützung der demokratischen Rechte des belarussischen Volkes.“ So fasste Josep Borrell, Hoher Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, die Ergebnisse des Rates der AußenministerInnen zusammen, der am 19. November 2020 in einer Videokonferenz die Verschärfung des Sanktionsregimes gegen Belarus in Gang setzte. Mit der Veröffentlichung der Sanktionen im Amtsblatt der EU vom 17. Dezember 2020 wurden die Sanktionen rechtskräftig.  Doch welchen Einfluss zeigen Sanktionen bzw. „restriktive Maßnahmen“, wie sie nach Art. 215 AEUV des Vertrags von Lissabon genannt werden? Wie steht es um das Verhältnis zwischen der EU und Belarus? Und was kann die EU zur Lösung der Krise überhaupt beitragen?

Belarus – Schlusslicht unter den östlichen Partnern der EU

Die EU und Belarus sind seit 2009 über die so genannte Östliche Partnerschaft (ÖP) miteinander verbunden. Die ÖP ist Teil der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) der EU, die im Jahr 2004 aus der Taufe gehoben worden war. Mit Polen, Litauen und Lettland grenzen drei EU-Staaten als direkte Nachbarn an Belarus. Ziel der ENP ist es – so der ehemalige Kommissionspräsident Romano Prodi –, einen „Ring von Freunden“ um die EU zu generieren. Ebenso wie die Erweiterungspolitik der EU zielt die ENP auf die Transformation der insgesamt 16 Partnerstaaten ab. Sie strebt nach wirtschaftlichen und politischen Reformen, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Stabilität und Wohlfahrt und stellt den Nachbarn dafür nach dem Prinzip der Konditionalität eine stärkere Anbindung an die EU, Finanzhilfen, Handelserleichterungen oder Visaabkommen in Aussicht.

Die Erfolgsbilanz bis heute ist mäßig. Im Gegensatz zur sehr erfolgreichen Erweiterungspolitik war die ENP explizit ohne jede Beitrittsperspektive, sondern als Alternative zur EU-Mitgliedschaft, als Beitrittvermeidungspolitik konzipiert worden. Diese Ausrichtung ist zweifelsohne der Erweiterungsmüdigkeit innerhalb der EU geschuldet, die nach der „Big Bang“-Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten im Jahre 2004 um sich griff.

Neben der ÖP, die sich an die Nachbarstaaten der EU im Osten richtet (Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau, Ukraine) umfasst die ENP des Weiteren eine südliche Flanke. Dass auch hier die Bilanz mehr als zu wünschen übriglässt, verrät ein Blick in die Liste der südlichen Partnerländer: Ägypten, Algerien, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, Palästina, Syrien, Tunesien. Statt einem „ring of friends“ umgibt die EU aktuell ein „ring of fire“. Seit der gefälschten Präsidentschaftswahl vom 9. August 2020 und den darauf folgenden Protesten der belarusischen Bevölkerung, die der Staatsapparat mit großer Härte und Brutalität niederzuschlagen versucht, ist dieses Feuer in der europäischen Nachbarschaft an einer weiteren Stelle aufgelodert.

Belarus ist von der Erfüllung der Ziele, die mit der ÖP verbunden waren, seit langem weit entfernt. Als „letzte Diktatur Europas“ und einziges europäisches Land, das noch die Todesstrafe vollstreckt, liegt Belarus weit abgeschlagen hinter den anderen östlichen Nachbarn der EU. Im Eastern Partnership Index, der die Fortschritte der ÖP-Staaten nach verschiedenen Indikatoren bewertet, ist der seit 1994 vom autoritären Machthaber Alexander Lukaschenko regierte Staat regelmäßig Schlusslicht.

Tauwetter und Eiszeit im bilateralen Verhältnis

Die bilateralen Beziehungen zwischen Belarus und der EU hatten sich seit 2015/16 verbessert. Belarus pflegt traditionell eine enge Bindung mit Russland und war 2014 mit Russland und Kasachstan Gründungsmitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion. Als Reaktion auf die Krise in der Ukraine und die russische Annexion der Krim sah Lukaschenko sich jedoch gezwungen, seine Abhängigkeit von Moskau zu reduzieren. Er ließ politische Gefangene frei und läutete damit ein Tauwetter im bilateralen Verhältnis mit dem Westen ein. Die EU hob sodann eine Reihe von Sanktionen auf (ein Waffenembargo blieb weiter bestehen), verstärkte den politischen Dialog und erhöhte ihre finanziellen Unterstützungsleistungen für das Land. Lukaschenko betrieb in der Folge eine Schaukelstuhlpolitik zwischen Russland und der EU. Timothy Garton Ash erinnert sich daran, dass der belarusische Außenminister vor einigen Jahren die Devise ausgab, sein Land solle „a prosperous neutral country between the EU and Russia, ‚something like Switzerland‘“werden. Und in der Tat versuchte sich Lukaschenko in der Folge als Makler zwischen Ost und West. Zwar hatte er die Annexion der Krim als „kein gutes Beispiel“ bezeichnet, bot sich dann jedoch als Vermittler im Ukrainekonflikt an und war 2014/15 Gastgeber des so genannten Minsk-Prozesses für einen nachhaltigen Friedensplan in der Ostukraine. Im Verhältnis zur EU konnte mit dem Abkommen zur Visaerleichterung, welches am 1. Juli 2020 in Kraft trat, eine neue Annäherung im bilateralen Verhältnis erreicht werden.

Die Präsidentschaftswahl am 9. August 2020, die „weder frei noch fair“ ablief, so die EU-AußenministerInnen in ihrer Videokonferenz vom 14. August, sowie die darauffolgende brutale Gewalt von Lukaschenkos Staatsapparat gegen DemonstrantInnen gaben Anlass für einen neuen Tiefpunkt im bilateralen Verhältnis zwischen der EU und Belarus. Beim Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs am 14. August wurden neue „targeted“, also zielgerichtete Sanktionen angekündigt. Es folgte eine Blockade durch Zypern, das den Strafmaßnahmen nur zustimmen wollte, wenn die EU gleichzeitig die Türkei wegen des Gasstreits im östlichen Mittelmeer sanktionieren würde. Nach wochenlanger zypriotischer Vetodrohung (der Sanktionsbeschluss muss einstimmig getroffen werden) konnten die restriktiven Maßnahmen mit Wirkung vom 2. Oktober verhängt werden. Sie umfassen ein Einreiseverbot und das Einfrieren von Vermögenswerten für 40 Personen. Am 6. November beschloss der Rat der AußenministerInnen, die restriktiven Maßnahmen auf weitere Mitglieder des belarusischen Staatsapparates auszuweiten, darunter auf Lukaschenko und seinen Sohn, den nationalen Sicherheitsberater Viktor Lukaschenko. Als Reaktion auf den gewaltsamen Tod des Oppositionellen Roman Bondarenko setzte die EU neben den inzwischen knapp 60 sanktionierten Personen nun auch Unternehmen auf die Liste, die mit Lukaschenkos Regime in Verbindung stehen. Dieses dritte Sanktionspaket trat, wie eingangs erwähnt, am 17. Dezember 2020 in Kraft.

Wie effektiv sind Sanktionen?

Oft ist der Vorwurf zu hören, die EU schaue nur zu und beschließe wirkungslose Sanktionen. Schließlich weigere sich Lukaschenko immer noch seine Niederlage einzugestehen und lasse die DemonstrantInnen weiter mit brutaler Gewalt niederknüppeln. Die politik- und wirtschaftswissenschaftliche Forschung zur Wirksamkeit von Sanktionen ist ein schwieriges Feld, nicht zuletzt wegen des Präventionsparadoxes, das auch aus der Covid-19-Pandemie bekannt ist: Eine zweite Realität, aus der wir wüssten, wie es ohne bestimmte Maßnahmen oder Sanktionen gelaufen wäre, gibt es nicht.

Grundsätzlich kann man bei der Frage nach der Effektivität von restriktiven Maßnahmen folgende Unterscheidung treffen: Sanktionen können zum einen als Zwangsmaßnahme mit dem Ziel der Verhaltensänderung beim sanktionierten Akteur verhängt werden. Dieses Ziel kann in den seltensten Fällen erreicht werden, wie beispielsweise auch die Erfahrungen im Umgang mit Russland und der Ukraine zeigen. Stärkere Effektivität ist nachweisbar, wenn man Sanktionen als Mittel ansieht, um Schlimmeres zu verhindern bzw. die Kosten für die Handlungen des sanktionierten Akteurs zu erhöhen. Nicht zu unterschätzen ist außerdem die Signalwirkung, dass Regelverstöße und Verletzungen internationaler Normen nicht folgenlos bleiben. In jedem Fall können Sanktionen immer nur Teil einer politischen Gesamtstrategie sein. Wie kann diese im Fall Belarus aussehen?

Politik mit Samthandschuhen

Wer nach mehr Aktivität der EU in der Krise ruft, muss sich in Erinnerung rufen, dass die externen Einflussmöglichkeiten begrenzt sind und sich zu viel Druck von außen sogar nachteilig auswirken kann. Denn klar ist, dass die restriktiven Maßnahmen auch die Gefahr bergen, Belarus in die Arme Russlands zu treiben. Als Antwort auf das von Moskau und Lukaschenko beförderte Narrativ, die Demokratiebewegung sei eine vom Westen befeuerte „Farbrevolution“, betonte die Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja im August 2020, dass die belarusische Revolution keine geopolitische sei. „Sie ist weder eine pro-russische noch eine anti-russische Revolution, sie ist weder eine anti-europäische noch eine pro-europäische Revolution. Es ist eine demokratische Revolution.“

Auch die EU, der die geopolitischen Erfahrungen mit der Ukraine und Russland seit 2014 noch in den institutionellen Knochen stecken, hat kein Interesse an einer Ukraine 2.0. Sie muss mit Samthandschuhen vorgehen und bemüht sich darum, die Sanktionen mit einer politischen Strategie und gezielter Unterstützung der Zivilgesellschaft zu flankieren. Die Europäische Kommission hat hierzu ein Hilfspaket von knapp 54 Millionen Euro geschnürt, dass zum einen die Folgen der Covid-19-Pandemie in der schwer getroffenen belarussischen Bevölkerung abfedern und zum anderen finanzielle Unterstützungsleistungen für freie Medien, Zivilgesellschaft und Opfer von staatlicher Repression liefern soll.

Lukaschenko spielt auf Zeit und vertagte die angekündigte neue Verfassung. Angesichts der Pattsituation im Land und der anhaltenden Gewalt des Regimes wird auch die Stimme der im litauischen Exil agierenden Opposition nach mehr Unterstützung aus dem Westen lauter. Tichanowskaja bezeichnet den Umfang der europäischen Sanktionen inzwischen als zu begrenzt, vor allem im Vergleich zu den Sanktionen 2010, als der Grad der Gewalt des Regimes deutlich geringer war. Sie fordert weitere Unterstützung demokratischer Staaten und glaubt, „dass wir bis zum Frühjahr gewinnen können“. Die Belarus-Krise wird somit auch 2021 auf dem Tapet der EU-Außenpolitik liegen.  Es bleibt zu hoffen, dass der Präsident des Europäischen Parlamentes, David Sassoli, mit seiner Feststellung Recht behält, die er bei der Verleihung des Sacharow-Preises für geistige Freiheit an die demokratische Opposition von Belarus äußerte: „They have on their side something that brute force can never defeat – and this is the truth.“

Dieser Blog-Beitrag ist die aktualisierte Version eines gleichnamigen Artikels der Autorin, welcher Anfang Dezember 2020 in der Zeitschrift „Religion und Gesellschaft in Ost und West“ erschien.