Am 12. September 2018 hat das Europäische Parlament erstmals für ein Sanktionierungsverfahren gegen einen Mitgliedstaat gestimmt, konkret gegen Ungarn. Grundlage dieses wichtigen Votums ist ein Bericht der niederländischen Grünen-Abgeordneten Judith Sargentini, in dem vielfältige Verstöße Ungarns gegen die demokratischen Grundwerte der EU und Angriffe auf die Rechtstaatlichkeit belegt werden. Der 79-seitige Bericht des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, dessen Berichterstatterin Frau Sargentini ist, liegt bereits seit dem 4. Juli 2018 vor. Er beinhaltet den Vorschlag, wegen der „Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte der Europäischen Union durch Ungarn“ ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einzuleiten. Am 12.September 2018 ging es also darum, dass das Plenum des Europäischen Parlaments beschließt, den Rat zur Auslösung eines Strafverfahrens gegen Ungarn aufzufordern.

Mit satter Zweidrittelmehrheit gegen Ungarn

Nachdem im Vorfeld bestimmt worden war, dass Enthaltungen nicht mitgerechnet werden, votierte das Europäische Parlament mit einer satten Zweidrittelmehrheit von 69 Prozent der Stimmen für diesen Antrag: 448 Parlamentarier votierten für den Antrag, bei 197 Gegenstimmen und 48 Enthaltungen. Damit liegt der Ball im Feld des Rats, der nun mit einer Vierfünftelmehrheit feststellen muss, dass „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht“ – so der Wortlaut des Artikel 7 Abs. 1 EUV. Als die „grundlegenden Werte“ der EU definiert Artikel 2: die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte.

Wer sich nun an die Auslösung eines Artikel-7-Verfahrens im Dezember 2017 gegen Polen erinnert, muss sich vergegenwärtigen, dass damals die Kommission die Initiative ergriffen hatte. Im September 2018 aber wurde das Europäische Parlament aktiv, was dem Vorstoß eine ungleich größere Legitimität verleiht. Damit ist ein starkes Zeichen gesetzt, hart gegen die rechtsstaatswidrigen Machenschaften nationalistischer und/oder rechtspopulistischer Regierungen von EU-Mitgliedstaaten vorzugehen und ihren offenen Angriffen auf das Wertsystem der EU die Stirn zu bieten.

Der jüngste Vorstoß des Europäischen Parlaments steht jedoch vor den selben hohen Hürden wie die Kommissionsinitiative: Bevor es tatsächlich zu einer Sanktionierung des betroffenen Mitgliedstaates kommen kann, nämlich zu einer Aussetzung bestimmter Rechte einschließlich der Stimmrechte dieses Mitgliedstaates im Rat, muss nicht nur zunächst der Rat tätig werden. Sollte der betroffene Mitgliedstaat die Gefährdungen nicht abstellen, muss der Europäischen Rat in einem weiteren Verfahrensschritt einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Werte der EU vorliegt. Erst dann kann es zu Sanktionen kommen – ein langer Weg also. Es ist davon auszugehen, dass im Falle Polens dies Ungarn, im Falle Ungarns dies Polen letztlich verhindern werden.

Die EVP springt bei der Abstimmung über ihren Schatten

Es ist kein Geheimnis, dass Victor Orban seit vielen Jahren seinen brandgefährlichen Umbau Ungarns hin zu einer illiberalen Demokratie, wie er das nennt, auch deshalb weitgehend ungestraft vorantreiben kann, weil seine Regierungspartei Fidesz im Europäischen Parlament zur größten und mächtigsten Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) gehört. Die EVP umfasst die gemäßigten bürgerlichen und christsozialen Parteien Europas, so bekanntlich auch Deutschlands CDU und CSU. Unter dem Vorwand, man wolle im Rahmen dieser europäischen Parteiformation so viel mäßigenden Einfluss wie möglich auf Orban ausüben, hat sich die EVP über Jahre hinweg dem oft zu hörenden Ruf, doch endlich die Fidesz-Abgeordneten und damit Orban auszuschließen, widersetzt. Noch im Juni 2018, als die EVP-Fraktion in München tagte, hielt man an dieser Linie fest.

Nun aber, auch in Reaktion auf einen provokativen, uneinsichtigen Hardliner-Auftritt Victor Orbans im Europäischen Parlament am 11.September 2018, der keinerlei Zugeständnisse Ungarns an die EU hatte erkennen lassen, wechselte EVP-Fraktionschef Manfred Weber von der CSU seine Position. Er unterstützte den Antrag des Sargentini-Berichts, gab in der Fraktion die Abstimmung jedoch frei, um eine Spaltung zu vermeiden.

Bei der Abstimmung vom 12. September 2018 stimmten von den insgesamt 218 EVP-Abgeordneten 115 dem Antrag zu, 59 lehnten ihn ab, darunter Markus Ferber und Monika Hohlmeier (beide CSU), 29 enthielten sich der Stimme. Bei der 190 Abgeordnete zählenden „Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten“ S&D, zu der die deutschen Sozialdemokraten gehören, lehnten lediglich zwei den Antrag ab, fünf enthielten sich, alle anderen stimmten zu. Erwartungsgemäß lehnten alle Abgeordnete der rechtsextremen/rechtspopulistischen jungen Fraktion „Europa der Nationen und der Freiheiten“ ENF den Antrag geschlossen ab.

Der Europawahlkampf kündigt sich an

In der Tat lässt sich Manfred Webers Entscheidung, persönlich für den Sargentini-Antrag zu votieren und der Fraktion das Abstimmungsverhalten freizugeben, nur im Lichte der bevorstehenden Europawahl vom Mai 2019 erklären. Manfred Weber, der lange Jahre Victor Orban in Schutz genommen und gegen einen Ausschluss der Fidesz-Abgeordneten aus der EVP agiert hatte, musste nun endlich Farbe bekennen. Denn Weber möchte bei der kommenden Wahl der Spitzenkandidat der EVP werden. Nach dem 2014 erstmals praktizierten sog. Spitzenkandidatenverfahren wird der-/ diejenige neuer Kommissionspräsident, der/die der Spitzenkandidat der siegreichen, stärksten Fraktion ist. So kam Jean-Claude Juncker als Spitzenkandidat der EVP 2014 ins Amt des Kommissionspräsidenten. Ihm möchte Weber nun nachfolgen. Um ein glaubwürdiger und aussichtsreicher Spitzenkandidat seiner Fraktion werden zu können, sah sich Weber zu einer klaren Positionierung in Sache Ungarn und Artikel 7 genötigt.

Insgesamt ist davon auszugehen, dass die kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament wesentlich spannender und besser wahrgenommen werden als dies in der Vergangenheit der Fall war. Dies ist, so lässt sich sarkastisch festhalten, das positive Ergebnis der zahlreichen aktuellen Krisen und Spaltungen Europas, nicht nur in der Migrationsfrage. So ist mit einer deutlich höheren Wahlbeteiligung als 2014 zu rechnen, die EU-weit mit 43 Prozent auf katastrophal niedrigem Niveau lag. Neben den möglichen zusätzlichen Wahlerfolgen rechter, EU-skeptischer oder gar EU-feindlicher Kräfte gibt es einen weiteren Faktor, der 2019 den Wahlausgang mit beeinflussen wird, und dieser Faktor heißt Emmanuel Macron.

Emmanuel Macrons Pläne für die Europawahl 2019

Der junge französische Staatspräsident könnte auch auf europäischer Ebene das zu erreichen versuchen, was ihm in Frankreich gelungen ist, nämlich die Parteienlandschaft radikal zu verändern. Macrons Partei „La République en marche“ (LRM) ist erst im Kontext seiner Wahl im Mai 2017 entstanden, sie ist folglich noch nicht im Europäischen Parlament vertreten. Doch die künftigen Europaabgeordneten der LRM können nicht zur S&D, denn da sitzen die Widersacher Macrons aus der sozialistischen Partei Frankreichs oder aus dem, was davon noch übrig ist. Macron möchte daher, dass die künftigen LRM-Abgeordneten in Brüssel eine neue Formation bilden und Abgeordnete aus bereits bestehenden Fraktionen für dieses Projekt gewinnen. Bisher hat vor allem Guy Verhofstadt, der Chef der liberalen Fraktion im Europäischen Parlament (Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, ALDE), auf Macrons Avancen reagiert. Die noch näher zu konturierende künftige Fraktion will sich unter maßgeblicher Führung Macrons zum großen Gegenspieler der Extremen und Nationalisten aufschwingen. Im vergangenen Sommer hat sich in der Tat eine Art Lagerbildung Orban gegen Macron ergeben, als der Ungar, Ende August 2018 zu Besuch bei Italiens rechtsextremen Innenminister Matteo Salvini, den Franzosen als Chef der Partei der Migrationsbefürworter und als seinen größten Gegner bezeichnete. Macron nahm diese herausfordernde Einordnung umgehend an, indem er bestätigte: „Wenn sie [Orban, Salvini] in meiner Person ihren wichtigsten Widersachen sehen, dann haben sie Recht“ (Le Monde, 7.9.2018).

Noch ist nichts beschlossen, jedoch sieht alles danach aus, dass es zu einer neuen Fraktion im Europäischen Parlament kommt. Dort wird sich mit Sicherheit also einiges verändern.

Kommt es zu einem Ausschluss der Orban-Partei aus der EVP?

Die absehbaren Veränderungen im nächsten Europäischen Parlament – neben der möglichen neuen Formation um Macron und Verhofstadt muss wie erwähnt mit Stimmenzuwächsen für die rechtspopulistischen und EU-feindlichen Parteien gerechnet werden – könnten zu einer neuen Machtverteilung führen. Für die EVP bedeutet dies, dass ihre Stellung als stärkste Fraktion gefährdet werden könnte. Dies macht es derzeit unwahrscheinlich, dass es zu einem Ausschluss der Fidesz-Partei aus der EVP kommt. Denn Weber wird seine Truppen zusammenhalten müssen. Doch auch die Forderungen aus anderen Parteien, Fidesz auszuschließen, basieren auf eben solchen Machtkalküls und wollen die EVP schwächen. Es wird also richtig spannend werden bei der nächsten Europawahl. Hoffentlich verändert sich dadurch einiges zum Guten. Dass dies und der Kampf gegen EU-Verächter möglich ist, hat das Europäische Parlament am 12. September 2018 eindrucksvoll bewiesen – Zeit war es auch.