Nicht einmal zwei Wochen nach Amtsantritt als Kommissionspräsidentin der Europäischen Union legte Ursula von der Leyen den European Green Deal vor, einen umfassenden Plan, der EU-Europa im Jahr 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent der Welt machen soll. Die Vision besteht darin, das gesellschaftliche Wachstum weiter voranzutreiben, ohne dabei mehr Treibhausgase zu produzieren als Ausgleichsmaßnahmen bereitgestellt werden. Von der Leyen vergleicht die Verabschiedung des Deals im Hinblick auf seine Bedeutung für die Menschheit mit der Mondlandung und setzt mit dieser starken Symbolik außergewöhnlich hohe Erwartungen an die europäische Klimapolitik der nächsten Jahrzehnte.

Wie wichtig es ist, dass die EU ihrer traditionellen Vorreiterrolle in der Klimafrage im internationalen Kontext gerecht wird, hat die 25. Weltklimakonferenz COP 25 vom 02. bis 15. Dezember 2019 eindrücklich gezeigt. Nachdem im Rahmen der COP 24 mit einem für alle gültigen Regelbuch ein wichtiger Grundstein gelegt worden war, konnten sich die Staaten trotz zweitägiger Verlängerung nur auf einen sehr schwachen Minimalkompromiss einigen und wichtige Punkte, die für das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels erforderlich sind, wurden vertagt. Mit Blick auf die schleppenden Verhandlungen auf globaler Ebene und der Tatsache, dass die USA ihre Austrittserklärung aus dem Pariser Abkommen eingereicht haben, ist es umso bedeutender, dass die EU nun neue Weichen gestellt hat und die Klimafrage zum Schwerpunktthema erklärt.

Klimaschutz als “Markenzeichen“ der EU

Schon in ihrer Bewerbungsrede vor dem Europäischen Parlament im Juli 2019 hob von der Leyen den Klimaschutz besonders hervor und sah darin die größte Herausforderung der kommenden Jahrzehnte. Damit griff sie die neue Qualität der gesellschaftlichen Debatte rund um den menschengemachten Klimawandel auf. Ständige Verweise vonseiten der Wissenschaft, die die Dringlichkeit des Themas und die Gefahr von Kippelementen, die die Erderwärmung irreversibel vorantreiben könnten, hervorheben, werden von andauernden Alarm-Meldungen über Extremwettersituationen, auftauende Permafrostböden oder schmelzende Gletscher begleitet. Die Fridays-for-Future-Bewegung, auf deren Initiative hin Hunderttausende für Klimademonstrationen mobilisiert werden konnten, hat in hohem Maße dazu beigetragen, das Thema ins Zentrum der Politik zu rücken. Bei den Europawahlen war der Klimaschutz insbesondere für junge Menschen ein zentrales Motiv und die Fraktion Grüne/EFA konnte nicht zuletzt aufgrund der starken Ergebnisse der Grünen in Deutschland 22 Sitze hinzugewinnen.

Dementsprechend hat von der Leyen in den letzten Monaten deutlich gemacht, dass die Bekämpfung des Klimawandels als ein Auftrag der Bevölkerung an die Politik zu verstehen ist. Die EU soll mit gutem Beispiel vorangehen und der Klimaschutz zum „Markenzeichen“ des Staatenverbunds werden. Als klare Botschaft an die Kommission, dieses Vorhaben auch tatsächlich konsequent zu verfolgen und ihre Klimapolitik am 1,5-Grad-Ziel auszurichten, hat das Europäische Parlament am 28. November 2019 mit großer Mehrheit den Klimanotstand ausgerufen. Alles in allem scheint damit der richtige Zeitgeist zu herrschen, um tiefgreifende europäische Maßnahmen zu ergreifen.

Der European Green Deal

Mit dem Green Deal formuliert die Kommission einen Fahrplan, der vorgibt, was erreicht werden soll und wann die entsprechenden Gesetzesvorschläge zu den geplanten Vorhaben eingereicht werden. Frans Timmermans, Exekutiver Vizepräsident der Kommission, wurde im sogenannten Mission Letter damit beauftragt, dass die Gesetze implementiert und die Versprechen des Deals in die Tat umgesetzt werden. So soll der übergeordnete Auftrag der Klimaneutralität bis 2050 im März nächsten Jahres mit dem ersten europäischen Klimagesetz in europäisches Recht verankert werden. Als Zwischenschritt soll das Ziel der Reduktion von Treibhausgas-Emissionen für 2030 von bislang minus 40 Prozent im Vergleich zu 1990 auf minus 50 bis 55 Prozent verschärft werden. Dafür will die Kommission bis zum Sommer 2020 einen ausgereiften Vorschlag vorlegen.  Um das neue 2030er-Ziel zu erfüllen, wird außerdem jeder Mitgliedstaat aufgefordert, seine Klimaziele bis 2023 zu aktualisieren. Insgesamt erkennt der Plan an, dass den Herausforderungen des Klimawandels nur begegnet werden kann, wenn alle Bereiche berücksichtigt werden und ein Umdenken erfolgt, das wirtschaftliche Prozesse grundsätzlich verändert.

Vor diesem Hintergrund beinhaltet der Deal langfristige Strategien und zahlreiche Einzelmaßnahmen für Industrie, Verkehr und Landwirtschaft. Die Kommission hat sich beispielsweise zum Ziel gesetzt, den europäischen Emissionshandel auch auf den Seeverkehr auszuweiten, dem trotz sehr schlechter Klimabilanz bisher kaum Grenzwerte gesetzt worden waren. Gleichzeitig soll es Luftfahrtunternehmen im Rahmen des Emissionshandels erschwert werden, an kostenlose CO2-Zertifikate zu gelangen. Unter dem Motto „Vom Hof auf den Tisch“ strebt die Kommission außerdem an, im Frühjahr 2020 eine neue Landwirtschaftsstrategie vorzulegen, die zum Beispiel erreichen soll, dass der Einsatz von chemischen Pestiziden, Düngemittel und Antibiotika deutlich reduziert wird. Damit die EU im Rahmen der UN Biodiversity Conference, die im Oktober 2020 in China stattfinden wird, ebenfalls als Vorbild vorangehen kann, kündigt der Plan auch eine neue Biodiversitätsstrategie an.

Um die gesteckten Ziele umsetzen zu können, will die Kommission einen Investitionsplan vorlegen und schätzt den zusätzlichen Finanzbedarf derzeit auf jährlich 260 Milliarden Euro bis 2030. Im Rahmen des Investitionsplans soll ein besonderer Schwerpunkt darauf geleckt werden, dass „niemand auf der Strecke bleibt“ und keine Spaltung zwischen Ost und West entsteht. Um die Staaten zusammenzuführen und faire Bedingungen zu schaffen, sieht der Deal finanzielle Hilfen in Form eines Übergangsfonds für Regionen vor, in denen sich die Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft voraussichtlich besonders schwierig gestalten wird, weil sie von fossilen Brennstoffen oder CO2-intensiven Prozessen abhängig sind. Hierfür will die EU bis zu 100 Milliarden Euro investieren.

Daneben betont der Green Deal eindringlich, dass es sich beim Klimaschutz um eine globale Aufgabe handelt, die Europa nicht allein bewältigen kann. Die EU will in Sachen Klima auch in Zukunft eine Führungsrolle auf der internationalen Weltbühne übernehmen und andere Staaten mobilisieren. In diesem Zusammenhang wird jedoch auch das Risiko thematisiert, dass weniger ambitionierten Staaten durch die Verlagerung von CO2-Emissionen ein Wettbewerbsvorteil zukommen könnte. Als Vorschlag der Kommission, der dieses Problem eindämmen soll und in der Zukunft zu intensiven Diskussionen führen könnte, ist die Einführung einer CO2-Grenzsteuer für Drittstaaten angedacht, in denen niedrigere Standards gelten.

Der Europäische Rat beschließt Klimaneutralität – jedoch ohne Polen

Kurz nach der Vorstellung des Green Deals konnte beim EU-Gipfeltreffen am 12. und 13. Dezember 2019 ein erster wichtiger Schritt gemacht werden. Weitreichende Weichenstellungen der EU beschließen die Staats- und Regierungschefs in Einstimmigkeit; somit musste auch im Hinblick auf ein gemeinsames europäisches Klimaziel ein Kompromiss gefunden werden. Im Juli 2019 war ein Konsens zum Ziel der Klimaneutralität bis 2050 noch nicht erreichbar, da besonders Polen, Tschechien und Ungarn, aber auch Estland sich dagegen aussprachen. Daraufhin wurde in den Schlussfolgerungen lediglich in einer Fußnote vermerkt, dass eine „große Mehrheit der Mitgliedstaaten“ das 2050-Ziel anstreben würden.

Wegen des bevorstehenden Brexits wurde die Frage der Klimaneutralität auf dem jüngsten EU-Gipfel im Dezember 2019 nur im Rahmen der EU-27 verhandelt. Nicht zuletzt aufgrund des im Green Deal vorgesehenen Übergangsfonds ist es diesmal gelungen, dass 26 Staaten sich verpflichtet haben, das 2050-Ziel zu erreichen. Diesem Ergebnis gingen zähe Verhandlungen voraus, denn Tschechien und Ungarn verlangten zunächst, die Kernenergie als klimafreundliche Energiequelle in den Schlussfolgerungen aufzunehmen, was der Atomindustrie im Ergebnis hohe Summen an Fördergeldern in Aussicht gestellt hätte. Besonders die Kernenergiegegner Österreich und Luxemburg, aber auch Deutschland sprachen sich vehement gegen die Forderung aus und so wurde lediglich das bereits bestehende Recht der Mitgliedstaaten betont, ihren Energiemix selbst festzulegen.

Am Ende sah sich ausschließlich Polen angesichts seiner wirtschaftlichen Entwicklung und der Energiegewinnung, die mit 80 Prozent den mit Abstand größten Kohleanteil der EU-Staaten aufweist, nicht in der Lage, die Pflicht zur Klimaneutralität einzugehen. Um das Klimaziel auch ohne Konsens trotzdem als Gipfelergebnis verbuchen zu können, wurde in den Schlussfolgerungen festgeschrieben, dass der Europäische Rat die Klimaneutralität unterstütze, ein Mitgliedstaat sich jedoch noch nicht dazu verpflichten könne. Im Juni 2020 soll das Thema erneut auf der Tagesordnung stehen. Ob Polen sich dann auch zu einer verbindlichen Zusage wird durchringen können, wird stark von den weiteren Verhandlungen über den EU-Haushalt 2021 bis 2027 abhängen, denn der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki fordert hohe Finanzhilfen, die weit über den angekündigten Übergangsfonds hinausgehen.

Kann der Deal halten was er verspricht?

Mit dem neuen Aktionsplan in Form des Green Deals hat die EU ihr klimapolitisches Engagement demonstriert und strebt im Ergebnis nicht weniger als eine tiefgreifende Neugestaltung der europäischen Volkswirtschaften an, die gleichzeitig als zukunftsfähige Wachstumsstrategie verstanden werden soll. Der Deal wird sich jedoch daran messen lassen müssen, ob der nun ausgearbeitete Wegweiser tatsächlich zu konkreten Maßnahmen führen wird. In einem weiteren Schritt besteht die Herausforderung darin, auch außereuropäische Staaten mitzuziehen. Dies könnte im nächsten Jahr dadurch beeinträchtigt werden, dass der Vorschlag der Kommission für das 2030er-Ziel erst im Sommer vorgelegt werden soll. Mit diesem Zeitplan bleibt es sehr fraglich, ob es den Staats- und Regierungschefs noch vor der Weltklimakonferenz im November 2020 in Glasgow gelingen wird, sich auf verbindliche Maßnahmen zu einigen. Eine straffe Agenda für das nächste Jahrzehnt ist jedoch entscheidend, um die Ambitionen der Weltgemeinschaft zu steigern. Sicherlich wurde mit dem Deal eine sehr bedeutende Grundlage für die Bekämpfung des Klimaproblems gelegt; ob von der Leyens Vergleich mit der Mondlandung angemessen war, wird jedoch erst in Zukunft beurteilt werden können.