Am 20.12.2017 hat die Europäische Kommission beschlossen, gegen Polen ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einzuleiten. Damit setzt die EU erstmals in ihrer Geschichte das schärfste der ihr zur Verfügung stehenden Mittel ein, um ihre „fundamentalen Grundsätze“ und Werte zu verteidigen. Der Vorgang ist von herausragender Bedeutung.
Im konkreten polnischen Fall geht es um die Rechtsstaatlichkeit, um die Aufhebung der Unabhängigkeit der Justiz. Seit ihrem Amtsantritt Ende 2015 hat die rechts-konservative/ rechts-nationale PiS-Regierung diesen Kahlschlag systematisch in Angriff genommen und ihn inzwischen auch umgesetzt – mit Zustimmung des Staatspräsidenten Andrej Duda. Insgesamt wurden 13 Gesetze verabschiedet, die die Unabhängigkeit der Justiz aushöhlen.
Diese jedoch gehört inhärent zu jedem Rechtsstaat und die Rechtsstaatlichkeit wiederum wird explizit in Artikel 2 EUV genannt, der die „grundlegenden Werte“ der EU darlegt. Dies sind „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“. Die Rechtsstaatlichkeit ist dabei das höchste Gut, ohne die die anderen Grundwerte nicht garantiert werden können. Rechtsstaatlichkeit wiederum kann ohne eine unabhängige Justiz nicht funktionieren – beim polnischen Umbau des Justizwesens geht es also ums Ganze; und exakt darum hat sich die Kommission nun entschlossen, ein Verfahren nach Artikel 7 einzuleiten.
Beim Umbau des polnischen Justizwesens geht es ums Ganze; darum hat die Kommission nun scharf reagiert
Artikel 7 wurde erstmals im Vertrag von Amsterdam verankert, und im Vertrag von Nizza, der 2003 in Kraft trat, um einen vorgeschalteten Frühwarnmechanismus erweitert (Art. 7 Abs. 1). Letzteres geschah als Reaktion auf die Beteiligung einer rechtsextremen Partei an der Regierung eines EU-Mitgliedstaates; von 2000 bis 2003 war die FPÖ Teil der Regierung Österreichs. Da der EU damals keine angemessenen Reaktionsmittel gegen eventuelle Gefährdungen der Demokratie durch die Rechtsextremen zur Verfügung standen, reagierten die anderen 14 EU-Mitgliedstaaten mit bilateralen Maßnahmen. Im Vertrag von Nizza schuf man mit dem neuen Frühwarnmechanismus deshalb Vorsorge. In letzter Konsequenz kann mittels dieser Bestimmungen, die auch im geltenden Lissabonner Vertrag – leicht verändert – als Artikel 7 verankert sind, dem betroffenen Mitgliedstaat das Stimmrecht im Rat entzogen werden. Das ist eine sehr schwerwiegende Sanktionierung – deshalb wird der Artikel 7 auch als „Nuklearwaffe der EU“ bezeichnet. Aber ist diese Begrifflichkeit gerechtfertigt? Sie wäre wohl treffender, wenn man mittels dieser Vertragsnorm einen die Grundwerte der EU verletzenden Mitgliedstaat aus der EU ausschließen könnte – und sei es nur vorübergehend. Dies aber ist nicht möglich. Zwar kann, wie jeder angesichts der Brexit-Verhandlungen inzwischen weiß, ein Mitgliedstaat nach Artikel 50 seinen Austritt aus der EU freiwillig und selbstverantwortet vollziehen, „hinausgeworfen“ werden kann jedoch keiner.
So ist der Artikel 7 EUV in der Tat die schärfste Waffe der EU zur Verteidigung ihrer Grundwerte. Genau genommen müsste dieser Artikel ja rundherum überflüssig und unnötig sein, dürfen nach den sog. Kopenhagener Kriterien doch nur solche Staaten der EU beitreten, die anspruchsvolle Anforderungen erfüllen, darunter die „politischen Kriterien“, zu welchen eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit gehört. Artikel 7 ist folglich für den Fall gedacht, den es eigentlich gar nicht geben dürfte: einen die gemeinsamen Grundwerte der EU missachtenden Mitgliedstaat. Die überzogen anmutende Bezeichnung des Artikel 7 als Nuklearwaffe ist wohl dieser Tatsache geschuldet, dass er prinzipiell Undenkbares sanktionieren soll.
Ein vorgeschalteter Rechtsstaatmechanismus blieb erfolglos
Um bei Anzeichen von Verletzungen der gemeinsamen Grundwerte durch einen EU-Mitgliedstaat nicht gleich zur ganz großen Keule des Artikel 7 greifen zu müssen, wurde im März 2014 die sog. Rahmenvorschriften zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union geschaffen, der offizielle Titel lautet: „EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“. Er wurde insbesondere von der damaligen Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, Viviane Reding, vorangetrieben, die mit Blick auf Ungarn, das seit 2010 ebenfalls wiederholt mit Angriffen auf die EU-Grundwerte auf sich aufmerksam macht, einen praktikablen Dialogmechanismus schaffen wollte. Dieser Rechtsstaatmechanismus begründet ein dreistufiges Verfahren, in welchem der „beschuldigte“ Mitgliedstaat in allen Etappen Gelegenheit hat, eventuelle Missverständnisse auszuräumen und seine Rechtsstaatskonformität vollumfänglich wiederherzustellen.
Diesen auf Dialog und möglichst partnerschaftlich-einvernehmliche, gesichtswahrende Problemlösung setzenden Mechanismus hat die EU-Kommission im Januar 2016 eingeleitet. Ihren kritischen Kurs gegenüber Polen stützte sie dabei auf die Gutachten der über jeden Zweifel erhabenen Venedig-Kommission, einer unabhängigen Einrichtung des Europarates zur rechtstaatlichen Beratung. Zwei ganze Jahre lang hat die Juncker-Kommission mit Warschau gerungen – ohne jedes Ergebnis. Weder Polens Regierung unter Beata Szydło, noch das PiS-dominierte Parlament, noch Staatspräsident Andrzej Duda – und schon gar nicht der starke Mann im Hintergrund, Jaroslaw Kaczynski – sind ernsthaft auf die Argumente, Aufforderungen, Vorschläge und Fristen der EU-Kommission eingegangen.
Nach all diesen erfolglosen Bemühungen hat die EU-Kommission nun im Dezember 2017 die Reißleine gezogen und die Einleitung des Artikel 7 EUV beantragt. Warschau wurde eine letzte Drei-Monats-Frist eingeräumt, um durch Rückkehr zur vollumfänglichen Rechtsstaatlichkeit das Verfahren noch abwenden zu können. Obgleich sich Polens neue Regierung unter Ministerpräsident Mateusz Morawiecki etwas umgänglicher gibt als die Vorgängerin, kann wohl kaum damit gerechnet werden, dass in Warschau ein veritabler Kurswechsel erfolgt. Dann wird es im Frühjahr 2018 ernst.
Wie könnte das Verfahren ausgehen?
Das nun beantragte Verfahren nach Artikel 7 ist zweistufig. Zunächst geht es um die Feststellung, „dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht“. Diese Feststellung ist vom Rat der Minister der Europäischen Union nach Zustimmung des Europäischen Parlaments mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder vorzunehmen; das sind 22 Mitgliedstaaten. Zuvor aber hört der Rat den betroffenen Mitgliedstaat an.
Derzeit ist davon auszugehen, dass es – sollte Warschau die letzte Chance zur Umkehr erneut nicht nutzen – zu solch einer Feststellung kommen wird. Das Europäische Parlament votierte bereits dafür, Deutschland, Frankreich und weitere 13 Mitgliedstaaten unterstützen ebenfalls die Einleitung des Verfahrens.
Zu einem Stimmrechtsentzug Polens wird es aller Voraussicht nach aber dennoch nicht kommen. Denn die zweite, entscheidende Stufe des Verfahrens nach Artikel 7 verlangt die Einstimmigkeit im Europäischen Rat, der Versammlung der EU-Staats- und Regierungschefs, wenn sie definitiv feststellen, dass „eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt.“ Erst wenn diese Feststellung einstimmig im Europäischen Rat erfolgt ist (der betroffene Staat stimmt hier selbstredend nicht mit), kann der Rat (der Minister) mit (qualifizierter) Mehrheit bestimmte Rechte des betroffenen Mitgliedstaates aussetzen, einschließlich der „Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaates im Rat“.
Die zu Beginn der zweiten Stufe des Verfahrens erforderliche Einstimmigkeit im Europäischen Rat wird wohl nicht zu Stande kommen; denn Ungarns Regierungschef Victor Orban hat schon mehrfach sein Nein, sein Veto für solch eine Konstellation angekündigt. Der Kommission und ganz EU-Europa ist dies bekannt.
Welchen Sinn hat dann das Strafverfahren?
Man kann sich daher nun fragen, warum die Kommission mit Unterstützung des Europäischen Parlaments und zahlreicher Mitgliedstaaten dennoch die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 7 ausgelöst hat. Befürchtet sie denn nicht, dass das absehbare Scheitern in der zweiten Stufe im Europäischen Rat sie und den gesamten Grundwerteschutz der EU als düpierter, machtloser, zahnloser Tiger dastehen lassen wird, als Lachnummer für Europas Gegner und Totengräber?
Doch wer zuletzt lacht, lacht bekanntlich am besten. Zum einen wäre bereits die Feststellung, dass in Polen „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte [..] durch einen Mitgliedstaat besteht“ – auch ohne das sanktionierende Aussetzen des Stimmrechts – ein sehr klares Signal. Es könnte nicht nur Warschau, sondern auch anderen klarmachen, dass die EU im Kontext der derzeit virulenten (rechts)populistischen Europafeindlichkeit nicht mehr bereit ist, deren Anfeindungen schweigend zuzusehen und tatenlos hinzunehmen.
Zum anderen könnten Polen und andere angesprochene Mitgliedstaaten von Ideen, die derzeit im Brüssel und weiteren europäischen Hauptstädten ventiliert werden, schmerzlich betroffen werden. Denn zahlreiche Nettozahler unter den Mitgliedstaaten wollen im nächsten mehrjährigen EU-Finanzrahmen (2020 bis 2026) die Mittel für die Strukturförderung deutlich kürzen. Polen, das derzeit aus Brüssel jährlich rund 7 Milliarden Euro erhält, hätte mit deutlichen geminderten Subventionen zu rechnen. Deutschland und Frankreich erwägen gar, die Vergabe von EU-Mitteln an den Respekt der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen. Dass die polnische Regierung auf die Kürzung von Mitteln bzw. auf die Verhängung von Geldstrafen sehr schnell zu reagieren vermag, hat sich Ende November 2017 gezeigt. Der EuGH hatte in einem Eilverfahren ein Zwangsgeld von 100.000 € pro Tag angedroht, wenn der polnische Urwald Bialowieza europarechtswidrig weiterhin abgeholzt würde – einen Tag später hatte Polen reagiert und die Abholzung eingestellt.
Die derzeitigen Pläne zur Umstrukturierung des EU-Haushalts sind noch lange nicht beschlussreif. Aber sie deuten in eine Richtung, die denjenigen Mitgliedstaaten, die meinen, es mit den Grundwerten der EU nicht allzu ernst nehmen zu müssen, als letzte Warnung begreifen sollten: Bis hierhin und nicht weiter.