Ursula von der Leyen hat eine „geopolitische Kommission“ ausgerufen. Das neue Narrativ einer geostrategisch denkenden Europäischen Union muss als eine dringend erforderliche Antwort auf den derzeitigen Wandel von einer regelbasierten zu einer auch machtbasierten Ordnung verstanden werden. Das Jahr 2020 könnte in dieser Entwicklung eine einzigartige historische Zäsur bedeuten. Denn bereits jetzt steht fest: Die Welt, die wir bisher kannten, wird in Folge der immensen gesundheitlichen, politischen, sozialen und ökonomischen Schäden durch die COVID-19-Pandemie in mehrfacher Hinsicht eine andere sein. Die neue Ära des Großmächtewettbewerbs und die geopolitischen Folgen der Corona-Krise machen deutlich: Ein strategisch autonomes Europa ist notwendiger denn je.

Die Europäische Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat mit dem Beginn des neuen fünfjährigen institutionellen Zyklus der Europäischen Union (EU) eine „geopolitische Kommission“ ausgerufen. „Europa“, so von der Leyen in ihrer ersten Grundsatzrede am 8. November 2019 in Berlin, „muss auch die Sprache der Macht lernen. Das heißt zum einen, eigene Muskeln aufbauen, wo wir uns lange auf andere stützen konnten – etwa in der Sicherheitspolitik. Zum anderen die vorhandene Kraft gezielter einsetzen, wo es um europäische Interessen geht“. Kurzum: Die Europäische Union soll in ihrem auswärtigen Handeln künftig „strategischer, durchsetzungsfähiger und geeinter“ auftreten.

Der neue außenpolitische Ton aus dem Berlaymont in der Rue de la Loi in Brüssel ist in erster Linie Zeugnis unserer veränderten Realität: Europas von Krisen geplagte Nachbarschaft, der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs, die zunehmende Entfremdung in den transatlantischen Beziehungen und die wachsende sino-amerikanische Rivalität um die globale Vorherrschaft haben die strategische Landschaft Europas in den letzten Jahren grundlegend verwandelt.

Das Ringen um eine neue Weltordnung

Die Grundfesten der weitgehend westlich geprägten liberalen und multilateralen Ordnung geraten derzeit ins Wanken. Ein neuer Wettbewerb der Systeme zeichnet sich immer deutlicher am Horizont ab. Zu den bisher sichtbarsten Auswirkungen dieses neuen Großmächtewettbewerbs gehören die Rückkehr kruder Machtpolitik und eines aggressiven Nationalismus. Nach Jahrhunderten westlicher Dominanz verschieben sich mit dem Aufstieg der „emerging powers“, allen voran Chinas, die politischen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse zunehmend gen Asien. Die Globalisierung wird damit verstärkt von Mächten geprägt, deren Werte sich zum Teil fundamental von denen des Westens unterscheiden.

Der Inbegriff dieses epochalen Wandels ist die von dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping im Jahr 2013 angestoßene „Belt and Road Initiative“ (BRI). Das unter dem geschichtsträchtigen Namen „Neue Seidenstraße“ bekannte geoökonomische Megaprojekt umfasst nach offiziellen chinesischen Angaben über 100 Länder und zwei Drittel der Weltbevölkerung und soll dem Reich der Mitte bis 2049 (dem 100. Gründungsjahr der Volksrepublik) den Weg zur führenden Weltmacht ebnen. Zwar bekennt sich die chinesische Führung offiziell gebetsmühlenartig zu der berühmten Formel vom „friedlichen Aufstieg“ und zur multilateralen Ordnung, doch darf dies keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass sich die chinesische Lesart von Multilateralismus von der westlichen signifikant unterscheidet. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell brachte dies jüngst so auf den Punkt: „We Europeans support effective multilateralism with the United Nations at the centre […] China, on the other hand, has a selective multilateralism that wants, and is based on, a different understanding of the international order“. In Brüssel zeichnet sich daher inzwischen ein deutlicher Kurswechsel in der China-Politik ab. In einer „Gemeinsamen Mitteilung“ der Kommission vom 12. März 2019 heißt es erstmals: „China ist in verschiedenen Politikbereichen ein Kooperationspartner, mit dem die EU eng abgestimmte Ziele verfolgt, ein Verhandlungspartner, mit dem die EU einen Interessenausgleich finden muss, sowie zugleich ein wirtschaftlicher Konkurrent in Bezug auf technologische Führung und ein Systemrivale, der alternative Governance-Modelle propagiert“.

Unterdessen ziehen sich die Vereinigten Staaten sukzessive von ihrer Rolle als weltpolitischer Hegemon und Ordnungsmacht des Westens zurück. Die „Pax Americana“ erodiert unter der isolationistischen und protektionistischen „America First“-Doktrin von Präsident Trump zusehends. Die diesjährigen US-Präsidentschaftswahlen am 3. November 2020 werden folglich für das Fortbestehen der bereits wankenden liberalen Ordnung von eminenter Bedeutung sein. Doch längst wird auch das Rennen ums Weiße Haus von dem neuen Großmächtewettbewerb überschattet; so liefern sich Republikaner und Demokraten gegenwärtig einen Konkurrenzkampf darum, wer am härtesten gegen Peking auftritt.

Im Umkehrschluss bedeutet dies auch: Ganz gleich, ob Donald Trump oder Joe Biden die 59. US-Präsidentschaftswahl für sich entscheiden wird, die geostrategische Rivalität zwischen China und den USA wird die außenpolitische Strategie im Oval Office weiterhin dominieren. Neben dem politisch-ideologischen Wettstreit zwischen den beiden Weltmächten werden dabei auch Fragen der Technologieentwicklung und der Handelspolitik zunehmend geopolitisiert. Doch während Peking und Washington längst klassische Großmachtpolitik betreiben und um eine neue Weltordnung ringen, ist Europa seit Jahren hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt und droht zum Spielball einer globalen Systemkonkurrenz zu werden.

Die Notwendigkeit eines geopolitischen Europas

Die Ausrufung einer „geopolitischen Kommission“ durch die Kommissionspräsidentin von der Leyen muss daher als eine dringend erforderliche Antwort auf den derzeitigen Wandel von einer regelbasierten zu einer auch machtbasierten Ordnung verstanden werden. Über Jahrzehnte betrachtete sich die Europäische Union vorrangig als eine „Friedensmacht“ (Joschka Fischer) oder „Normative Power“ (Ian Manners); Machtpolitik war ihr weitestgehend fremd. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, dass sich Europa diese eher komfortable Rolle nur unter dem Schutzschirm der Supermacht USA erlauben konnte, die in den vergangenen 70 Jahren das macht- und geopolitische Handeln für den Westen im Wesentlichen übernommen haben. Auf dem alten Kontinent reift nun die Erkenntnis, dass sich diese Ära dem Ende zuneigt. So warnte neben der Kommission auch der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in einem Interview mit dem britischen Economist am 21. Oktober 2019, Europa müsse sich angesichts der sino-amerikanischen Rivalität dringend als „geopolitische Macht“ verstehen – „sonst werden wir die Kontrolle über unser Schicksal nicht mehr lange bewahren“. Doch was kann „Geopolitik“ überhaupt für einen außenpolitisch fragmentierten Akteur wie die EU konkret bedeuten und was müsste sie angesichts der sich abzeichnenden kolossalen Veränderungen umfassen?

In ihrer Rede auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 22. Januar 2020 erklärte Kommissionspräsidentin von der Leyen, die Europäische Union stehe für eine „von gemeinsamen Interessen geleiteten Geopolitik“. Dieser Ansatz erinnert im Kern an das Konzept der „kooperativen Autonomie“ der früheren EU-Außenbeauftragen Federica Mogherini; demnach sind „strategische Autonomie und Zusammenarbeit mit unseren Partnern zwei Seiten derselben Medaille“. Im Grunde genommen geht es daher bei dem neuen Narrativ einer geopolitischen und souveränen Europäischen Union um den Erhalt eines wirksamen multilateralen Systems im Allgemeinen und um die Notwendigkeit einer Stärkung der strategischen Autonomie Europas im Besonderen. Denn damit die EU gegen die USA und China ihre Interessen zur Geltung bringen kann, muss sie die dafür nötige Eigenständigkeit und internationale Handlungsfähigkeit entwickeln. Hierbei besteht die wesentliche strategische Herausforderung für die EU darin, die internen und externen Dimensionen ihrer Politikbereiche in der außenpolitischen Praxis enger zu verknüpfen.

An erster Stelle ist dabei die Notwendigkeit der Vollendung des Binnenmarkts und der Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) zu nennen. Der Binnenmarkt und der Euro sind die Basis für Europas Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Macht. So zeigt der sogenannte „Brussels effect“ (Anu Bradford), dass die EU qua ihrer Marktmacht durchaus in der Lage ist, weltweite Standards zu setzen – wie etwa mit der im Mai 2018 in Kraft getretenen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europa trotz seiner globalen Gestaltungskraft als Regulierungsmacht vor allem im technologischen Bereich (z.B. Künstliche Intelligenz oder 5G) nach wie vor hinterherhinkt. So existieren weiterhin keine „europäischen Champions“, die mit US-amerikanischen oder chinesischen digitalen Großkonzernen wie Google, Apple, Huawei oder Alibaba mithalten können. Die EU muss daher in Zukunft dringend mehr in diese Schlüsseltechnologien investieren, um die technologische Souveränität Europas in wichtigen Wertschöpfungsketten zu bewahren.

Doch um die von dem ehemaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker beschworene „Weltpolitikfähigkeit“ zu entwickeln, braucht es auch eine engere Koordination in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Makel der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) sind hinreichend bekannt: Diese reichen von dem oft kritisierten Einstimmigkeitszwang bis hin zu der mangelhaften außenpolitischen Strategiefähigkeit und der fehlenden Hard Power. Vor allem an Letzterem wird sich auch in den nächsten Jahren vermutlich wenig ändern; so wird Europa auf absehbare Zeit im Bereich der Territorialverteidigung von der NATO (und damit auch von den USA) abhängig bleiben. Gleichwohl hat die EU mit der Gründung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO) im Dezember 2017 bereits eine bedeutsame Weichenstellung für eine eigenständigere EU Sicherheits- und Verteidigungspolitik vollzogen. Dabei muss allerdings erwähnt werden, dass die bisher insgesamt 47 PESCO-Projekte merklich hinter den Erwartungen der 2016 verabschiedeten globalen Strategie der Europäischen Union zurückbleiben. Nach einer Studie des International Institute for Strategic Studies (IISS) befinden sich die meisten PESCO-Projekte „at the low-end of the capability spectrum and consist mostly of what Member States were ready to develop at the national level”. Eine deutlich ambitionierte Nutzung von PESCO, einschließlich der Lancierung sogenannter „High-End“-Projekte“, ist daher notwendig, um den eigenen Ansprüchen der EU als globaler zivil-militärischer Krisenmanager gerecht zu werden.

Dabei kann die strategische Bedeutung einer unabhängigeren EU-Sicherheitspolitik angesichts der äußerst volatilen Nachbarschaft der EU gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Denn das „geopolitische Europa“ steht und fällt mit der Frage, ob es der EU künftig gelingen wird, ihre direkte Nachbarschaft (vom Westbalkan über den Südkaukasus bis hin zur Sahara) zu stabilisieren. Längst liegt auf der Hand, dass Europa in Folge der geostrategischen Neuausrichtung der USA in Richtung asiatisch-pazifischen Raum in ihrer südlichen und östlichen Nachbarschaft deutlich mehr Verantwortung übernehmen muss. Falls die EU daran scheitert, bleibt ein strategisch autonomes Europa nicht mehr als eine Wunschvorstellung. Eher früher als später muss die EU auch das Einstimmigkeitsprinzip (zumindest) in der GASP überdenken. Bereits in der deutsch-französischen Erklärung von Meseberg (Juni 2018) heißt es hierzu: „Wir brauchen eine europäische Debatte über neue Formate, zum Beispiel einen EU Sicherheitsrat, und über Möglichkeiten einer engeren Abstimmung innerhalb der EU und in externen Foren. Ferner sollten wir im Rahmen einer breiteren Debatte über Mehrheitsentscheidungen in EU-Politikfeldern Möglichkeiten der Nutzung von Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik prüfen“. Nur allzu oft ist die EU aufgrund des Einstimmigkeitszwangs sowie der häufig divergierenden Bedrohungsperzeptionen und Interessen ihrer Mitgliedsstaaten außenpolitisch zu langsam oder gar völlig handlungsunfähig – und genau darin liegt auch eine der größte Schwächen der EU-Außenpolitik. Denn Mächte wie Russland und China – und auch die USA – werden stets versuchen, die Union nach dem Prinzip divide et impera zu spalten und damit geopolitisch zu schwächen. Daher ist es ebenfalls unbedingt erforderlich, dass die EU ihre gemeinsamen geopolitischen Interessen definiert. Dazu gehört unter anderem eine Schärfung der globalen Strategie der EU; schließlich hat sich die Sicherheitslage Europas seit 2016, als die letzte Globale Strategie veröffentlicht wurde, insbesondere durch den neuen Großmächtewettbewerb – und jüngst durch die COVID-19-Krise – markant verändert.

Die globale COVID-19-Pandemie und ihre geopolitischen Folgen

Das Jahr 2020 könnte in der Geschichte der Menschheit eine einzigartige Zäsur bedeuten. Denn bereits jetzt steht fest: Die Welt, die wir bisher kannten, wird in Folge der immensen gesundheitlichen, politischen, sozialen und ökonomischen Schäden durch die COVID-19-Pandemie in mehrfacher Hinsicht eine andere sein. Der Ausbruch des Coronavirus hat die gravierenden Mängel der bereits seit der Finanzkrise 2007 kriselnden Globalisierung – und insbesondere der Global (Health) Governance – schonungslos offengelegt. Nach der Pandemie müssen folglich einige grundsätzliche Fragen gestellt und beantwortet werden – vor allem mit Hinblick auf die Risiken weltweiter Interdependenzen und die Abhängigkeiten von globalen Lieferketten. Auffallend ist indes auch, welch marginale Rolle internationale Fora wie die G7, G20 oder die UNO bislang bei der Bewältigung dieser Krise einnehmen; so wirkt die COVID-19-Pandemie momentan wie ein Brandbeschleuniger für den relativen Niedergang des regelbasierten Ordnungsmodells.

Dies liegt a fortiori an der akuten Führungsschwäche der USA. Die Vereinigten Staaten versuchen derzeit erst gar nicht – wie beispielweise noch während der Finanzkrise oder der Ebola-Pandemie 2014-2016 – eine internationale Führungsrolle einzunehmen. Vielmehr scheinen sich die isolationistischen Tendenzen innerhalb der Trump-Administration noch einmal verstärkt zu haben. Dies zeigte sich unter anderem in der fragwürdigen Entscheidung Trumps, inmitten der Corona-Krise die US-Beitragszahlungen an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einzustellen. Vor kurzem warnte daher die frühere Sonderberaterin Mogherinis, Nathalie Tocci, die COVID-19-Pandemie „could mark the US’s Suez moment” – also jene Krise 1956, in der die USA Großbritannien und Frankreich endgültig für alle sichtbar als führende Weltmacht ablösten.

Denn längst wird das neue Virus auch im Wettstreit der Großmächte geopolitisch instrumentalisiert. So versucht sich China mit seiner Corona-Diplomatie (also der Lieferung von Medikamenten, Schutzausrüstung, Masken etc.) als globale Führungsmacht zu inszenieren. Zeitgleich läuft die chinesische globale Desinformationskampagne auf Hochtouren. Unter anderem soll Peking jüngst die EU massiv unter Druck gesetzt haben, um einen am 24. April 2020 dennoch veröffentlichten Bericht des Europäischen Auswärtigen Dienstes über Desinformation in der COVID-19-Krise zu verhindern. Einem Bericht von Reuters zufolge sollen dabei hochrangige chinesische Beamte europäischen Diplomaten damit gedroht haben, dass eine Veröffentlichung des Berichts „sehr schlecht für die Zusammenarbeit“ sei. Nur zwei Wochen später hat das chinesische Außenministerium einen Gastbeitrag der EU-Vertretung und der 27 EU Botschafter in der Staatszeitung China Daily zensiert. In dem Leitartikel anlässlich des 45. Jahrestags der Gründung diplomatischer Beziehungen zwischen China und der EU wurde demnach ein Halbsatz zum Ursprung des Virus gestrichen. Das offensichtliche Kalkül der chinesischen Führung hinter diesem massiven Druck: Peking möchte bei der „globalen Schlacht der Narrative“ die Deutungshoheit erringen. Die Corona-Krise ist schließlich auch eine Systemfrage. Welches Modell funktioniert effektiver in Krisenzeiten – das chinesische autoritäre oder das demokratisch-freiheitliche westliche? Ob Chinas Propaganda letzten Endes Erfolg haben wird, mag dennoch bezweifelt werden. Denn die Kritik an Chinas Verhalten ist groß, unter anderem auch weil sich Peking nach wie vor einer unabhängigen Untersuchung über den Ausbruch der Pandemie verweigert. Immer mehr wird inzwischen deutlich: Weder die USA noch China taugen derzeit als internationale Führungsmacht.

Und Europa? Nach klassischen nationalstaatlichen Reflexen zu Beginn der Krise scheint die EU langsam zu begreifen, dass sie diese Heimsuchung nur gemeinsam meistern kann; so hat der Europäische Rat am 23. April 2020 das erste 540-Milliarden-Euro-schwere Hilfspaket gebilligt. Gleichzeitig ist indes auch klar, dass diese Summe nicht ausreichen wird. Besonders die sogenannten „frugal four“, also Deutschland, die Niederlande, Schweden und Österreich, werden künftig ihren alten fiskalpolitischen Dogmatismus überwinden müssen, der bereits zu Zeiten der Eurokrise wenig hilfreich war.

Zusammenfassend ist es höchste Zeit sich einzugestehen, dass der Erhalt der Europäischen Union, von einem „geopolitischen Europa“ ganz zu schweigen, Geld kosten wird. Dabei ist auch offensichtlich: Die Alternative, nämlich ein geopolitisch irrelevantes Europa, wäre wesentlich teurer. Es würde uns letzten Endes unsere in diesen Tagen oft beschworene europäische Souveränität kosten. Die europäischen Staats- und Regierungschefs sollten daher diese Krise nutzen, um ein Europa zu schaffen, das den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist. Denn die Art und Weise wie die EU diese Krise bewältigt, wird maßgeblich entscheidend sein für die Zukunft des europäischen Integrationsprojekts und Europas Rolle in der Welt.

Ein hehrer Anspruch

Einem geopolitischen Europa stehen folglich noch viele Hürden entgegen. In einer Welt der Machtpolitik und der Großmächterivalität zwischen China und den USA ist es allerdings unerlässlich, dass die Europäische Union ihre Stimme erhebt und ihre Werte und Interessen verteidigt. Dabei geht es erstrangig um die Selbstbehauptung Europas. Keineswegs sollte es darum gehen, sich sehenden Auges in einen globalen Machtkampf zu stürzen. Vielmehr sollte Europa seinen Einfluss nutzen, um den Wettbewerb zwischen den Großmächten friedlich zu bewältigen und die Kernprinzipien der liberalen und multilateralen Ordnung zu verteidigen und zu erneuern.

Eine regelbasierte Ordnung ist in Europas genuinem Interesse. Bereits seit der ersten Europäischen Sicherheitsstrategie (ESS) „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ vom Dezember 2003 ist ein „effektiver Multilateralismus“ eines der prägenden Leitmotive der EU-Außenpolitik. Die Gründe hierfür liegen auf der Hand: Schließlich ist die EU selbst in ihrem Wesenskern „a creature of multilateralism“. Oder wie es der ehemalige Kommissionspräsident José Manuel Barroso einst formulierte: Der Multilateralismus ist Bestandteil „der DNA“ der Europäischen Union. Zugleich ist ein regelbasiertes System der Garant für Europas Sicherheit und Wohlstand. Viele drängende Fragen unserer Zeit, sei es der Klimawandel oder die gegenwärtige COVID-19-Krise, können nur durch mehr internationale Zusammenarbeit gelöst werden.

Es ist jedoch ebenso klar, dass die multilaterale Ordnung, allem voran die Welthandelsorganisation (WTO), dringender Reformen bedarf. Es braucht letzten Endes einen Multilateralismus, welcher die veränderten geopolitischen Verhältnisse und neuen Realitäten des 21. Jahrhunderts reflektiert. Die Europäische Union sollte die treibende Kraft hinter einer solchen Reform sein – mit den „United Nations at the centre“, wie der EU-Außenbeauftragte Borrell betonte. In diesem Sinne schwebt der Europäischen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Europäische Union vor, „die Hüterin des Multilateralismus ist“. Ein äußerst ambitioniertes Ziel, welches angesichts der weltweiten Umbrüche und Verwerfungen durch den neuen Wettlauf der Großmächte und die COVID-19-Krise wohl noch nie so notwendig war wie heute.