Am 1. Dezember 2019 trat der bisherige spanische Außenminister Josep Borrell das Amt des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik an und wurde damit gleichzeitig Vizepräsident der Europäischen Kommission. Wegen der um einen Monat verspäteten Einsetzung der Kommission fiel der Amtsantritt zusammen mit dem zehnjährigen Jubiläum des Vertrags von Lissabon. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beschwor in ihrer Antrittsrede sogleich auch den „Geist von Lissabon“, dessen Hüterin sie und ihre neue Kommission sein wollen.

Das Lissabonner Upgrade: Vom Hohen Vertreter 1.0 zum Hohen Vertreter 2.0

Gerade für das Amt des Hohen Vertreters und Vizepräsidenten der Kommission (HV/VP) hatte das Lissabonner Vertragswerk gewichtige Änderungen mit sich gebracht. Der Posten, der 1999 als Stimme und Gesicht der EU in der Welt ins Leben gerufen und bis 2009 von „Mr. GASP“, Javier Solana, eingenommen worden war, erfuhr mit Lissabon ein deutliches Upgrade. Der Hohe Vertreter 1.0 wurde zum Hohen Vertreter 2.0, ausgestattet mit dem so genannten Doppelhut von Rat und Kommission: Als Vorsitzender im Rat der AußenministerInnen und Vizepräsident der Kommission soll der Hohe Vertreter die außenpolitischen Sphären von Rat und Kommission verbinden. Dies soll zwar einerseits eine europäische Außenpolitik aus einem Guss garantieren, andererseits bringt die diffizile Konstruktion jedoch einen schwierigen Balanceakt mit sich. Ein Brüsseler Bonmot bringt dies treffend auf den Punkt: „A double-hatted High Representative can soon become double-hated.“ Der Doppelhut ist zudem mit einer großen Aufgabenfülle und mit immensem Einsatz rund um den Globus verbunden, sodass Solana die Lissabonner Konstruktion als „mission impossible“ titulierte.

Solanas Nachfolgerinnen Catherine Ashton und Federica Mogherini hatten folglich auch keinen leichten Stand. Erstere war mit der Herausforderung konfrontiert, den im Vertragswerk nur embryonal angelegten Europäischen Auswärtigen Dienst zu etablieren, während die EU nicht nur intern von Krisen gebeutelt wurde, sondern die EU-Außenpolitik gleichzeitig Antworten finden musste auf massive Umwälzungen in ihrer südlichen (Arabischer Frühling) und östlichen Nachbarschaft (Ukraine und Russland). Ashton verglich diese Aufgabe einmal damit, ein Flugzeug zu fliegen, während die Flügel noch montiert werden. Mogherini konnte nach Ashtons Aufbauarbeiten bei ihrem Amtsantritt 2014 auf eine – trotz nach wie vor bestehender Rivalitäten – funktionierende institutionelle Infrastruktur zurückgreifen.

Startpunkt: Federica Mogherinis Vermächtnis

In welchem Zustand fand nun Borrell die EU-Außenpolitik vor, als er vor 100 Tagen sein Amt als HV/VP antrat? Was bleibt von fünf Jahren und einem Monat Mogherini? Nach einer kurzen Hochphase des Multilateralismus, in dem 2015 das Pariser Klimaabkommen und der Atomdeal mit dem Iran abgeschlossen werden konnten, war ihre Amtszeit maßgeblich geprägt von Migrationsfragen, den Kriegen und Konflikten in der Ukraine, Syrien, Libyen, dem Endlosdrama Brexit und nicht zuletzt von US-Präsident Donald Trump. Vor allem die unilaterale US-amerikanische Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran im Mai 2018 war ein herber Schlag für die EU-Außenpolitik, galt doch der Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA), der unter Leitung der Hohen Vertreterinnen Ashton und Mogherini verhandelt worden war, als ein Meisterwerk europäischer Diplomatie.

Die neue Unsicherheit in den transatlantischen Beziehungen befeuerte die Diskussion um die Notwendigkeit strategischer Autonomie Europas und brachte Bewegung in die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Brexit wirkte als weiterer Stimulus für das Europa der Verteidigung, denn mit dem Vereinigten Königreich verabschiedete sich zwar einerseits eine große europäische Militärmacht mit Sitz im UN-Sicherheitsrat; andererseits traten die Briten jedoch hartnäckig auf die Bremse, wenn es um autonome Strukturen wie etwa ein militärisches Hauptquartier für die EU ging. Der Brexit setzte hier eindeutig Synergien frei. Das Europa der Verteidigung wurde in Mogherinis Amtszeit deutlich greifbarer. Mit der Einrichtung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, kurz PESCO) nach Artikel 42 (6) EUV, dem Europäischen Verteidigungsfonds und der koordinierten jährlichen Verteidigungsplanung (Coordinated Annual Review on Defence, kurz CARD) wurde die Basis für die Europäische Verteidigungsunion gelegt, in enger Kooperation mit der NATO, wie Mogherini nicht müde wurde zu betonen.

Dass Mogherini im Juni 2016 nur wenige Tage nach dem Brexit-Referendum die neue Globale Strategie (EUGS) präsentierte, ist Ausdruck dieser „jetzt erst recht“-Stimmung. Die Staats- und Regierungschefs der EU-27 sandten mit der Annahme der Strategie ein Signal der Einigkeit. Die EUGS, die unter der Federführung von Mogherinis Sonderberaterin Nathalie Tocci ausgearbeitet wurde, ist in jedem Fall als bleibendes Vermächtnis zu sehen. Das Dokument stieß in Wissenschaft und politischer Praxis auf relativ positive Resonanz, nicht zuletzt wegen des dezidiert pragmatischen Ansatzes (principled pragmatism) im Vergleich zur Europäischen Sicherheitsstrategie von 2003 und deren hehren Versprechungen von einem „sicheren Europa in einer besseren Welt“. Als Erfolg gilt auch, dass die Reihen der Mitgliedstaaten bei den Sanktionen gegen Russland geschlossen blieben. Dies ist umso erwähnenswerter als Mogherini bei Amtsantritt eine allzu große Russlandnähe vorgeworfen wurde.

Im institutionellen Gefüge schöpfte Mogherini die Position als Vizepräsidentin der Kommission mehr aus als ihre Vorgängerin, sie führte die Kommission näher an die Kernbereiche der EU-Außenpolitik und damit an die Sphäre der Mitgliedstaaten heran. Unter dem öffentlichen Radar blieb ihr großer Einsatz für die Kulturdiplomatie, für den sie vor wenigen Wochen den Theodor-Wanner-Preis erhielt. In seiner Laudatio hob der deutsche Außenminister Heiko Maas die Fähigkeit der „Maestra Mogherini“ hervor, als Dirigentin aus den vielen europäischen Stimmen, welche sich mitunter zu Solisten berufen fühlen, einen klangvollen Chor geformt zu haben.

Der undiplomatische Diplomat übernimmt den Dirigentenstab

Dieses harmonische Bild darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU-Außenpolitik sich in einem – gelinde gesagt – verbesserungsfähigen Zustand befindet. Bei den internationalen Krisen in Syrien, Libyen oder im Nahen Osten ist sie eher Zaungast als Akteur. Als in Folge der Tötung des iranischen Generals Kassem Soleimani durch die USA das Pulverfass des Nahen und Mittleren Ostens zu explodieren droht, versucht sich die EU in Deeskalation, ohne selbst etwas tun zu können. Sie steht am Rande des Spielfelds, streitet intern über die eigene Strategie (wie etwa Italien und Frankreich über den richtigen Kurs in Libyen) oder riskiert gar, selbst zum Spielfeld für Mächte wie Russland oder China zu werden. Letzteres stellte Borrell in einem Brief an die AußenministerInnen vor dem ersten von ihm geleiteten Ratstreffen fest. Er blickt dabei besonders auf den westlichen Balkan, dessen weiterer Stabilisierung er oberste Priorität einräumt. Die EU dürfe hier kein Vakuum entstehen lassen, das andere Mächte nur zu gerne füllen möchten.

Als Ziel seiner ersten offiziellen Reise wählte Borrell Pristina, eine überraschende Wahl für den bisherigen spanischen Außenminister, denn Spanien gehört zu der Minderheit an EU-Staaten, die Kosovo nicht anerkennen. Borrell ist selbst Katalane, hegt aber keinerlei Sympathie für Sezessionsbewegungen und bewies mit seiner Antrittsreise gleich zu Beginn, dass er vor heiklem Terrain nicht zurückschreckt. Er ist überzeugt davon, dass die EU nur dann glaubwürdig als globaler Akteur handeln könne, wenn sie ihre Probleme auf dem eigenen Kontinent geregelt bekomme.

Borrell, Sozialist, Luftfahrtingenieur und Ökonomieprofessor, zählte zu den Kommissionskandidaten und -kandidatinnen, die vor der Anhörung im Europäischen Parlament auf der Abschussliste standen. In Spanien war der 72-Jährige wegen Aktien-Insidergeschäften verurteilt worden, sein Amt als Präsident des Europäischen Hochschulinstituts in Florenz musste er 2012 wegen einer nicht offengelegten Aufsichtsratsmitgliedschaft beim Energiekonzern Abengoa und daraus entstehenden Interessenkonflikten niederlegen. Kritisiert wurde auch seine bisweilen zu temperamentvolle Art, die ihn beispielsweise wegen unliebsamer Fragen ein Interview abrechen ließ. Er ist berüchtigt für undiplomatische und teils nicht tragbare Aussagen. Sein despektierlicher Satz zur Geschichte der USA („Das einzige, was sie tun mussten, war vier Indianer zu töten.“) wurde ihm umgehend als rassistisch ausgelegt. Anders als seinen Vorgängerinnen gestand man dem bisherigen spanischen Außenminister einiges an außenpolitischer Erfahrung zu. Als Mitglied des Konvents zur Zukunft der EU (2001 bis 2003), früherer Präsident des Europäischen Parlaments (2004 bis 2007) und ehemaliger Vorsitzender des Ausschusses für Entwicklung im Europäischen Parlament (2007 bis 2009) ist Borrell auch mit europäischen Wassern gewaschen und kann Erfahrung auf dem Brüsseler Parkett vorweisen. Das „Grilling“ im Europäischen Parlament konzentrierte sich hauptsächlich auf Fragen zur Außenpolitik. Dieses Kreuzverhör, in das er als ehemaliger Parlamentspräsident wohl auch mit einem Heimvorteil ging, überstand er insgesamt weitgehend unbeschadet und erhielt nach einer Nacht Bedenkzeit grünes Licht von den ParlamentarierInnen.

Ein Doppelhut – und beide Hände voll zu tun

Es ist das Los der Position des HV/VP, dass sie die AmtsinhaberInnen ins kalte Wasser wirft, denn Krisen und Konflikte der Weltpolitik kennen keine Anlaufzeit. So war auch Borrell in den ersten 100 Tagen mehr als gefordert. Auf der To-Do-Liste des HV/VP stehen unter anderem eine europäische Nachbarschaft, die sich – südlich und östlich – nicht zum erwünschten „ring of friends“, sondern zum „ring of fire“ (Economist) entwickelt hat; besonders das Krisentrilemma Türkei-Syrien-Libyen verschärft den Migrationsdruck auf die Außengrenzen der EU; das kaum noch zu rettende Atomabkommen mit dem Iran; die so wichtige Ausgestaltung der künftigen Beziehungen zu Afrika; der Green Deal als Priorität der gesamten Kommission; die Venezuela-Krise; zahlreiche Handelsabkommen, z. B. mit dem Vereinigten Königreich; die immer turbulenteren Beziehungen mit dem transatlantischen Partner USA unter Trump; der Umgang mit dem Systemrivalen China. Die Liste ist lang – und unvollständig.

In den ersten 100 Tagen jonglierte Borrell die Aufgabenfülle durchaus mit viel Aktivität. So koordiniert er etwa den Streitschlichtungsmechanismus des JCPOA mit dem Iran, berief ein außerordentliches Treffen der Außenminister zum Umgang mit der Türkei ein, wurde selbst damit beauftragt, zusammen mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu die Implementierung des EU-Türkei-Abkommens von 2016 einem Faktencheck zu unterziehen und legte im Rahmen der Kommission ein Papier zur neuen EU-Afrika-Strategie vor. Als Erfolg zu werten ist zweifelsohne die Einigung auf eine neue Mission zur Überwachung des UN-Waffenembargos gegen Libyen. Borrell hatte sich explizit für einen solchen EU-Einsatz ausgesprochen, während sich Österreich, Ungarn, Italien und Griechenland aus Furcht vor einem Pull-Effekt der Mission auf MigrantInnen vehement dagegenstemmten. Seinen Stolz über die gelungene Kompromisslösung (Beendigung der Operation Sophia, Verschiebung des Einsatzgebietes ins östliche Mittelmeer und Option auf Beendigung der maritimen Komponente, falls ein Sogfaktor entsteht) konnte Borrell bei der Pressekonferenz nach dem Treffen der EU-AußenministerInnen Mitte Februar nur schwer verbergen. Ansonsten nutzte er die ersten 100 Tage für zahlreiche, teils viel versprechende Ankündigungen, die von einer Geberkonferenz für Syrien Ende Juni 2020 über die Europäisierung der von Frankreich initiierten Marinemission in der Straße von Hormus bis hin zu einer europäischen Nahost-Initiative als Antwort und Alternative zu Trumps so genanntem „Friedensplan“ für Palästina und Israel reichen. Bei all dem bleibt abzuwarten, welche Taten den Worten folgen werden.

Sprache der Macht

Apropos Worte: Zweifelsohne fällt der neue EU-Chefdiplomat durch eine klare und bisweilen undiplomatische Sprache auf. Verbrämungen sind nicht sein Stil, was ihm bereits einen Shitstorm einbrachte, als er die Ernsthaftigkeit der Fridays for Future-Bewegung anzweifelte und sie lakonisch als „Greta-Syndrom“ bezeichnete. Kurz darauf musste er per Twitter zurückrudern und sich entschuldigen. Seine Offenheit und klaren Botschaften können der EU aber auch guttun. Er legt den Finger in die Wunde der EU-Außenpolitik, wenn er den Rat der AußenministerInnen als „Tal der Tränen“ bezeichnet, weil dort alle Leiden der Weltpolitik ankämen, der Rat aber nur Beileid und Besorgnis statt Handlungsfähigkeit anbieten könne.

Borrell spricht sich unmissverständlich gegen die Einstimmigkeit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik aus und unterscheidet sich dadurch massiv von Mogherini, die bei einer Pressekonferenz nach fast vier Jahren Amtszeit sagte, dass die Einstimmigkeit bei den Entscheidungen im Rat bisher „niemals“ ein Problem gewesen sei. Borrell ist hier deutlich ehrlicher und sieht die Einstimmigkeit als Relikt der Vergangenheit an. Auf Basis von einstimmigen Entscheidungen zu arbeiten, bedeute Lähmung, das stellte er bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 fest. Er plädierte ungewöhnlich offen und leidenschaftlich für eine Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip, für Koalitionen der Willigen und für die stärkere Nutzung der bisher quasi irrelevanten Möglichkeit der konstruktiven Enthaltung. Auffällig ist auch, dass er selbst Position bezieht und diese äußert, so etwa als er jüngst seine Unterstützung für eine Flugverbotszone in Syrien zum Ausdruck brachte. Obwohl er damit keine gemeinsame EU-Position vertritt, können solche Vorstöße die Debatte voranbringen und untermauern seinen Führungsanspruch nach innen, vor allem den Mitgliedstaaten gegenüber.

Eine machtvolle Führungsrolle beansprucht er auch nach außen. Die EU solle die Sprache der Macht lernen, so Borrell in einem seitdem viel zitierten Satz bei seiner Anhörung im Europäischen Parlament im Oktober 2019. Europa solle einen appetite for power entwickeln, dürfe nicht nur kommentieren und in Erklärungen Besorgnis äußern, sondern müsse handeln. In Borrells Augen ist die Sprache der Macht durchaus militärisch zu sehen, aber nicht nur. Wenn ein Akteur die Sprache der Macht spreche, könne er Entscheidungen treffen, die andere einschränken. Diese Zielvorgabe macht der neue HV/VP dem globalen Akteur EU und ergänzt damit das bisherige „Führen durch Vorbild“ (leading by example), das Prinzip, welches das Handeln der EU über Jahrzehnte geprägt hat. Borrell will nicht nur Einfluss für die EU, sondern Macht. Dass seine eigene Macht beschränkt ist, zeigen die Erfahrungen der letzten 20 Jahre, in denen das Amt des Hohen Vertreters prä- und post-Lissabon schon existierte. Es bleibt abzuwarten, wieviel Macht die Mitgliedstaaten Josep Borrell und seinen bedenkenswerten Visionen und Ambitionen in den nächsten 1697 Tagen seines Mandats einräumen werden.