Am 4. April trafen sich die AußenministerInnen der 29 Mitgliedstaaten zum 70. Jahrestag der Gründung der North Atlantic Treaty Organization (NATO) in Washington, DC. Hier, im Andrew Mullen Auditorium des State Department in der Constitution Avenue, unterzeichneten 1949 die Regierungsvertreter zehn westeuropäischer Staaten, Kanadas und der USA den Nordatlantikpakt und begründeten damit das heute älteste bestehende kollektive Verteidigungsbündnis. Gründe zum Feiern anlässlich ihres 70-jährigen Bestehens hätte die NATO eigentlich genug: Die Allianz hat durch ihre stetige Anpassungsfähigkeit an neue sicherheitspolitische Bedrohungen nicht nur das Ende des Kalten Krieges überlebt, sondern im Zuge von sieben Erweiterungsrunden den Kreis ihrer Mitglieder auf nunmehr 29 Teilnehmerstaaten ausgeweitet – einschließlich mehrerer Staaten, die ehemals dem Warschauer Pakt angehörten. Erst im Februar wurde nach der Beilegung des Namensstreits mit Griechenland das NATO-Beitrittsprotokoll mit Nordmazedonien unterzeichnet, welches noch dieses Jahr als 30. Mitglied der Allianz beitreten soll.

Jubiläum ohne Feierstimmung

Feierstimmung kam dennoch nicht so richtig auf. Die Fliehkräfte und unterschiedliche Interessenlagen innerhalb des Bündnisses sind heute enorm. Anders als während des Kalten Krieges variieren die Bedrohungsperzeptionen der Mitgliedstaaten je nach ihrer geographischen Lage erheblich. Besonders die baltischen Staaten und Polen fordern hinsichtlich der perzipierten Bedrohung durch Russland eine Stärkung der NATO-Ostflanke, während die südlichen Alliierten primär an einer Stabilisierung Nordafrikas und der Mittelmeerregion interessiert sind. Die USA befürworten angesichts des Aufstiegs Chinas indes eine globale Ausrichtung der NATO. Im syrischen Bürgerkrieg verfolgen die Türkei und die restlichen Verbündeten sogar gänzlich gegensätzliche Interessen. Besonders seit der Ankündigung Ankaras im Dezember 2017, das russische S-400-Flugabwehrsystem erwerben zu wollen, hat sich der Konflikt mit dem NATO-Mitglied Türkei weiter zugespitzt. Die gegenwärtig größte Herausforderung innerhalb der NATO, so sind sich die Beobachter weitgehend einig, geht jedoch vom Weißen Haus aus. Unter der Trump-Administration fielen die transatlantischen Beziehungen auf einen historischen Tiefpunkt. Insbesondere Trumps ambivalentes Verhältnis zur NATO weckte in Europas Hauptstädten wachsende Zweifel an der Verlässlichkeit der amerikanischen Sicherheitsgarantien.

Doch bei aller berechtigten Kritik an Trumps fragwürdigem Umgang mit seinen Bündnispartnern stellt sich auch die Frage: Ist die gegenwärtige Krise der NATO allein ein Trump-Phänomen oder handelt es sich vielmehr um strukturelle Probleme innerhalb des Bündnisses? Und welche Rolle kann womöglich die Europäische Union (EU) bei der Bewältigung dieser Krise einnehmen?

Rückblick: 70 Jahre NATO – Ein Bündnis im Wandel

Sieben Jahrzehnte lang schützt die NATO bereits ihre Mitglieder. Historisch gesehen hatten nur wenige Militärbündnisse so lange Bestand. Nach einer Studie von Brookings aus dem Jahr 2010 betrug die durchschnittliche Lebensdauer von kollektiven Verteidigungsbündnissen in den vergangenen 500 Jahren lediglich 15 Jahre. Dies liegt vor allem daran, dass sich externe Bedrohungen sowie die Interessen von Bündnisstaaten stetig ändern. Der NATO gelang es hingegen, sich kontinuierlich an das sich verändernde internationale sicherheitspolitische Umfeld anzupassen und somit in den Augen ihrer Mitgliedstaaten relevant zu bleiben.

In der ersten Phase des Bündnisses von 1949 bis 1989 war die NATO eindimensional auf die Landes- und Bündnisverteidigung gegenüber der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt fokussiert. Oder, wie es der erste NATO-Generalsekretär Lord Ismay angeblich formulierte: Die NATO diente dazu, „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und das damit einhergehende Ende der Blockkonfrontation erzwangen schließlich eine grundlegende Neuausrichtung der Programmatik des Bündnisses. In ihrer zweiten Phase (1990 bis 2014) entwickelte sich die NATO von einem regionalen zu einem globalen Sicherheitsakteur, indem sie sogenannte „Out-of-Area-Einsätze“ (z.B. robuste Friedensmissionen) jenseits des Bündnisgebiets in ihre Agenda aufnahm. Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA wurde erstmals der berühmte Passus des Nordatlantikvertrages in Artikel 5 angewandt und der Bündnisfall ausgerufen. Dies hatte den bislang längsten NATO-Einsatz in Afghanistan zur Folge, welcher bis heute in Form einer Ausbildungsmission afghanischer Streitkräfte andauert.

Im März 2014 stand das transatlantische Bündnis nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der anhaltenden Destabilisierung der Ostukraine durch Russland erneut vor der Notwendigkeit einer Strategieanpassung. Besonders auf Druck der osteuropäischen Mitgliedstaaten folgte eine Rückbesinnung der Allianz auf das „Kerngeschäft des Kalten Krieges“, die klassische Territorialverteidigung. Zum Schutz der NATO-Ostflanke beschloss das Bündnis daher in den vergangenen Jahren die Aufstellung einer 5000 Mann starken „Speerspitze“ (Very High Readiness Joint Task Force) sowie die Verlegung multinationaler Gefechtsverbände (NATO Enhanced Forward Presence) in die baltischen Staaten und nach Polen. Mit dem Großmanöver „Trident Juncture“ in Skandinavien vollzog die NATO im Herbst 2018 mit rund 50.000 Soldaten ihre größte Übung seit 2002.

Alles in allem befindet sich die NATO gegenwärtig in einer paradoxen Lage: Einerseits ist die Allianz durch das aggressive Agieren Russlands so relevant wie seit dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht mehr, andererseits aufgrund wachsender Interessensunterschiede intern tief gespalten. Besonders schwer wiegt dabei der enorme Bedeutungsverlust, den die NATO bei ihrem mit Abstand wichtigstem Mitglied hinnehmen muss – den Vereinigten Staaten.

The Elephant in the Room – Präsident Donald Trump

Seit Donald Trump im Januar 2017 ins Weiße Haus eingezogen ist, schwebt der 45. Präsident der Vereinigten Staaten wie ein Damoklesschwert über dem transatlantischen Bündnis. Wie kein anderer US-Präsident hat Trump in den vergangenen Jahren die NATO immer wieder in Frage gestellt. Einem Bericht der New York Times zufolge soll der amerikanische Präsident im vergangenen Jahr gar einen Austritt der USA aus der Allianz erwogen haben. Allein solche Gedankenspiele treffen die NATO tief ins Mark und nutzen vor allem ihren geostrategischen Rivalen. Schließlich hängt die Glaubwürdigkeit der NATO-Abschreckungsfähigkeit im Wesentlichen von der militärischen Macht der USA ab. In Europa festigt sich unterdessen der Eindruck, dass man sich auf die (ehemalige) Schutzmacht USA nicht mehr verlassen kann – und zwar nicht nur in Bündnisfragen. Trumps America-First-Doktrin zielt nämlich gleichermaßen auf eine protektionistische Handelspolitik sowie die Aufkündigung des Pariser Klimaschutzabkommens und des Nuklearabkommens mit Iran. Der 45. US-Präsident hat keinen Hehl daraus gemacht, was er von multilateralen Institutionen und Win-win-Lösungen hält, nämlich nichts. Die internationale regelbasierte Ordnung der Nachkriegszeit – sie ist unter Trump zu einem Waisenkind geworden.

Doch zurück zur NATO. Trump wirft seinen NATO-Verbündeten in erster Linie Trittbrettfahrerei vor und verweist dabei auf die asymmetrische Lastenverteilung innerhalb des Bündnisses. Dieser Vorwurf ist an sich nicht neu und reicht bis in die Präsidentschaft John F. Kennedys zurück. Auch Trumps Vorgänger Barack Obama – in dessen Amtsperiode übrigens das von Trump hochstilisierte Zwei-Prozent-Ziel beschlossen wurde – prangerte die „free-rider“ in der Allianz an. Was Trump jedoch von vorherigen Präsidenten unterscheidet, ist die Kassenwartmentalität, mit der er langjährige Verbündete vor den Kopf stößt und die Einheit der NATO untergräbt.

Dennoch spricht Trump damit prinzipiell ein berechtigtes Anliegen der USA an. Laut einer Studie des International Institute for Strategic Studies (IISS) gaben die Amerikaner im vergangenen Jahr 3,1% des BIP für Verteidigung aus und schulterten mit rund 70% den Löwenanteil der gesamten NATO-Verteidigungsausgaben. Auf europäischer Seite erfüllten hingegen lediglich vier Staaten die NATO-Vorgabe: Estland, Griechenland, Litauen und das Vereinigte Königreich. Zwar sind die europäischen Militäretats seit dem „Defence Investment Pledge“ in Wales 2014 real um 4,2% angestiegen, doch bleiben etliche europäische Mitgliedstaaten hinter dem gemeinsamen Zwei-Prozent-Ziel bis 2024 zurück. Es ist grundsätzlich richtig, dass man die Sinnhaftigkeit und den Mehrwert des Zwei-Prozent-Ziels hinterfragen kann, doch hat Europa durch die ungleiche Kostenverteilung im Bündnis einen wesentlichen Anteil an der derzeitigen Misere der NATO. In den kommenden Jahren werden die Forderungen aus Washington nach einer Erhöhung der europäischen Verteidigungsausgaben noch weiter zunehmen – selbst in der Zeit nach Trump. Der Aufstieg Chinas ändert sukzessive die geostrategische Perspektive der USA in Richtung asiatisch-pazifischen Raum. Daher hat Europa gar keine andere Wahl, als mehr Verantwortung in der eigenen Nachbarschaft zu übernehmen – und letztendlich mehr in die eigene Verteidigung zu investieren.

Rettet PESCO die NATO?

Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die Umsetzung des berühmten Zwei-Prozent-Ziels wenig an der im Bereich der militärischen Fähigkeiten bestehenden Kluft zwischen den USA und Europa ändern würde. Selbst wenn sich alle europäischen NATO-Staaten an das Zwei-Prozent-Ziel hielten, wären sie weiterhin von den USA militärisch abhängig. Dies gilt im Besonderen für sogenannte „strategic enablers“ (z.B. Luftbetankungsfähigkeiten), die sich einzelne europäische Länder schlichtweg nicht mehr leisten können. Daher, so argumentiert auch Sven Biscop in einem 2018 erschienen Artikel, benötigt es zwingend eine stärkere Bündelung europäischer Streitkräfte. Im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) besitzt die EU, mit der im Dezember 2017 gegründeten Permanent Structured Cooperation (PESCO), bereits einen wirksamen Mechanismus, mit dem genau jene fehlenden strategischen Kapazitäten generiert werden können. PESCO befindet sich zwar derzeit noch im Anfangsstadium, doch langfristig wäre durchaus die Produktion eines einheitlichen Kampfflugzeugs oder einer europäischen Drohnenflotte denkbar. Es sind daher vor allem die Europäer, die jetzt handeln und ambitionierte PESCO-Projekte auf den Weg bringen müssen. Dies liegt in erster Linie im Eigeninteresse der EU, um dem in der Globalen Strategie der Europäischen Union von 2016 festgelegten Ziel der strategischen Autonomie gerecht werden zu können. Doch letztlich profitiert auch die NATO von den im Rahmen der PESCO geschaffenen Kapazitäten, da die Mitgliedstaaten auch in Zukunft nur über „one single set of forces“ verfügen. Falls die USA daher ernsthaft an einer ausgewogenen Lastenverteilung im Bündnis interessiert sind, sollten sie ihre alte Skepsis gegenüber der GSVP überwinden und PESCO unterstützen.

Eines ist dabei jedoch auch klar: Zwar lässt sich das burden-sharing-Problem langfristig nur durch eine vertiefte Integration im Verteidigungsbereich lösen, doch sind viele der Projekte, die im Rahmen von PESCO möglich sind, langfristige Vorhaben und können deshalb die unmittelbare Krise der NATO nicht lösen. Daher besteht das Risiko, dass sich der Streit um die Lastenverteilung innerhalb des Bündnisses in den kommenden Jahren gefährlich zuspitzen wird.

NATO 4.0?

Für einen Abgesang auf das westliche Verteidigungsbündnis ist es dennoch zu früh. In der amerikanischen Politik gibt es große Gegengewichte zu Trumps NATO-Politik. So verabschiedete der Kongress im Januar mit überwältigender Mehrheit den „NATO Support Act“, welcher Trump daran hindern soll, im Alleingang die NATO zu verlassen. Zudem hat sich – jenseits von Trumps Rhetorik – das amerikanische Engagement in Europa in den letzten Jahren sogar erhöht. Heute befinden sich etwa mehr US-Truppen auf dem europäischen Kontinent als noch unter seinem Vorgänger Obama. Auch die finanziellen Mittel für die „European Deterrence Initiative“ sind seit 2017 von 3,4 Milliarden US-Dollar auf 6,5 Milliarden im Jahr 2019 angestiegen. Es besteht daher eine große Diskrepanz zwischen der Rhetorik Trumps und dem tatsächlichen Handeln der USA. Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass der alte Kontinent für die Amerikaner heute einen geringeren Stellenwert einnimmt als noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Die größte Zukunftsaufgabe der NATO besteht daher darin, auch künftig einen vernünftigen Interessensausgleich zwischen ihren Mitgliedstaaten zu finden. Der Westen muss sich auf eine neue geostrategische Ordnung einstellen und gleichzeitig eine Antwort auf neue Bedrohungen wie hybride Kriegsführung und Cyberangriffe finden. In den vergangenen 70 Jahren ist es der NATO stets gelungen, sich neu zu erfinden und dadurch relevant zu bleiben. In London, wo sich übrigens auch das erste NATO-Hauptquartier in Belgrave Square befand, soll im Dezember schließlich der Jubiläumsgipfel der NATO mit den Staats- und Regierungschefs stattfinden –  vielleicht ist ja dann die Zeit bereits reif für eine „NATO 4.0“.