Zum letzten Mal in diesem Jahr trafen sich die EU-Staats- und Regierungschefs am 14. und 15. Dezember zum Europäischen Rat (ER) in Brüssel. Viel geredet wurde im Vorfeld über dieses Treffen, standen mit dem PESCO-Start sowie der Einleitung von Phase 2 der Brexit-Verhandlungen gleich zwei wegweisende Beschlüsse an. Zudem waren mit der Ankündigung des Ratspräsidenten Donald Tusks, sich künftig noch „unmittelbarer mit […] politisch sensiblen Themen“ befassen zu wollen, Diskussionen über eine umfassende Reform der Eurozone sowie die Neuausrichtung der europäischen Migrationspolitik auf die Agenda gesetzt worden.

Irritiert hat in diesem Zusammenhang dann allerdings Bundeskanzlerin Angela Merkel, die im Vorfeld des ER angekündigt hatte, die traditionelle Regierungserklärung vor solchen Gipfeln ausfallen zu lassen, da schlichtweg nicht mit großen Entscheidungen zu rechnen sei. Hintergrund dieser Zurückhaltung war sicherlich die deutsche Hängepartie in der Regierungsbildung, sodass einmal mehr klar wurde, dass die ambitionierten Reformbemühungen der EU27 ohne die Beteiligung einer vollumfänglich entscheidungsbefugten neuen deutschen Regierung nicht vorankommen können. Die Beratungen des ER lassen sich in vier große Themenbereichen untergliedern.

Brexit: Startschuss für Phase 2 der Verhandlungen

Die am häufigsten rezipierte Entscheidung des Europäischen Ratstreffens wurde am Freitag unter den EU27 getroffen – ohne Großbritannien. Nach sechsmonatigen Verhandlungen in Phase 1 und der Einigung der Verhandlungsgruppen von Kommission und Vereinigtem Königreich stellte der ER der 27 fest, dass ausreichende Fortschritte in den bereits behandelten Themen vorliegen. Die Verhandlungen über einen geordneten Austritt des Vereinigten Königreichs sind somit abgeschlossen, sodass im kommenden Jahr die Gespräche über die künftigen Beziehungen zwischen beiden Parteien beginnen können. Auch der Wunsch des Vereinigten Königreichs, für die Zeit nach dem offiziellen Austritt zum 29. März 2019 einen Übergangszeitraum zu verhandeln, wurde von den Staats- und Regierungschefs begrüßt. Gleichzeitig wurde festgehalten, dass Großbritannien während dieses Zeitraums zwar Zugang zum gesamten Besitzstand der EU gewährt werden soll, es als Drittstaat aber nicht mehr an der Beschlussfassung der europäischen Institutionen beteiligt sein wird.

In Bezug auf Phase 1 einigte man sich auf die folgenden Punkte, die Grundlage jeglicher künftiger Verhandlungen sein werden:

  • Bürgerrechte: Entscheidender Punkt der ersten Phase der Verhandlungen waren die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien und die der britischen Bürger in der EU27. Hier einigte man sich darauf, dass für betroffene Bürger, die vor dem Austrittsdatum am 29. März 2019 legal in Großbritannien bzw. der EU27 wohnhaft sein werden, auch weiterhin die gleichen Rechte wie regulär dort wohnhafte Bürger haben werden. Jegliche Diskriminierung dieser Personen aufgrund ihrer Nationalität ist demgemäß verboten. Die gleichen Rechte gelten auch für bestehende sowie künftige Familienmitglieder (durch Geburt oder Heirat). Auch die Forderung der EU, dass sich britische Gerichte weiterhin in Bezug auf die Rechte der EU-Bürger auf Urteile und Empfehlungen des Europäischen Gerichtshofs berufen sollen, wurde in der Einigung festgehalten.
  • Finanzielle Einigung: Auch in finanziellen Belangen hat sich das Vereinigte Königreich mit den EU-Unterhändlern geeinigt. Dabei verpflichtete sich London nach dem Austritt im März 2019 weiterhin seine bereits zugesicherten Beiträge zum Budget bis 2020 zu leisten. In Projekten wie der EU Facility for Refugees in Turkey oder dem EU Treuhandfonds steht Großbritannien genauso zu seinen Verpflichtungen wie für den Europäischen Entwicklungsfonds. Mit dieser Einigung setzte sich die EU-Seite in nahezu allen Punkten durch. Während sich die britische Regierung und die Kommission mit konkreten Zahlen noch zurückhalten, beziffern Experten die Summe auf ca. 55 Milliarden Euro.
  • Irische Insel: In Bezug auf die schwierige Situation zwischen Irland und Nordirland bekannten sich beide Seiten zur Umsetzung des Good Friday Agreements auch in Zukunft sowie dazu, auch weiterhin die nötigen Anstrengungen zum Erhalt des Friedens auf der Insel zu unternehmen. Von britischer Seite sicherte man zu, dass es auch künftig keine harte Grenze oder regulatorische Hindernisse zwischen der Republik Irland und Nordirland geben werde. Gleichzeitig sollten solche Hemmnisse aber auch zwischen Nordirland und dem restlichen Vereinigten Königreich vermieden werden. Inwieweit diese Zusicherungen bei gleichzeitiger Verfolgung eines harten Brexits, d.h. eines Binnenmarktausstiegs, jedoch umsetzbar sind, bleibt abzuwarten. Der Irland-Teil der Einigung ist zudem als Kompromiss zu sehen; denn ein britischer Vorschlag, eine Sonderregelung inklusive Binnenmarktverbleibs für Nordirland zu schaffen, hatte zuvor zu einem innenpolitischen Erdbeben in Großbritannien geführt. Nicht nur kündigte die DUP, die Mays Regierung stützt, Widerstand gegen diese Klausel an, auch die schottische Regionalregierung sowie der Bürgermeister von London forderten umgehend gleiches Recht für ihre Regionen. Die konkrete Ausgestaltung der künftigen irisch-britischen Beziehungen muss also besonders genau und kritisch verfolgt werden.

Trotz dieser Einigung irritierte Brexitminister David Davis mit der Äußerung, die Übereinkunft sei lediglich eine Absichtserklärung und somit mitnichten ein verbindliches Verhandlungsergebnis. Der ER der 27 wies diese Einschätzung in seinen Schlussfolgerungen zum Brexit klar zurück und knüpfte die Empfehlung für den Eintritt in Phase 2 der Verhandlungen an die Bedingung, dass „alle in der ersten Phase eingegangenen Verpflichtungen voll und ganz eingehalten werden und so schnell wie möglich getreu in Rechtsbestimmungen niedergelegt werden“.

Obwohl zwei Monate später als geplant erzielt, stellt diese Einigung nun endlich den erforderlichen großen Schritt für die weiteren Verhandlungen dar. Dennoch sind diese Ergebnisse, so wichtig sie auch sein mögen, lediglich als Etappensieg zu sehen. Der große Teil der wegweisenden Entscheidungen, die festlegen müssen, wie genau der Brexit vollzogen werden wird (soft oder hard Brexit), folgt erst in den kommenden Jahren. Der Fahrplan sieht folgendermaßen aus: Bereits im Januar 2018 sollen die Verhandlungen über den Übergangszeitraum beginnen. Beim Europäischen Rat im März 2018 werden die Staats- und Regierungschefs dann Leitlinien für das künftige Verhältnis (Phase 2) zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich beschließen; auf dieser Grundlage werden dann die konkreten Verhandlungen beginnen können.

PESCO: Beginn einer verstärkten Verteidigungszusammenarbeit

In einem Festakt am 14. Dezember läuteten die Staats- und Regierungschefs der beteiligten Mitgliedsstaaten zudem die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, oder: PESCO) in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein. Im Vergleich zur Unterzeichnung durch die Außen- und Verteidigungsminister am 13. November wuchs die Zahl der teilnehmenden Mitglieder um Irland und Portugal an, sodass lediglich Dänemark, Malta und Großbritannien außen vor bleiben. Aus den 46 Projektvorschlägen wurden nun 17 Anfangsprojekte ausgewählt, die jeweils in verschiedenen Formationen und unter Leitung eines Mitgliedstaats implementiert werden sollen. Jedes PESCO-Mitglied muss sich an einem Projekt beteiligen. Die Projekte reichen von der Schaffung eines europäischen medizinischen Kommandos über ein ‚militärisches Schengen’ hin zu gemeinsamer Militärausbildung. Lesen Sie eine Einschätzung zur PESCO von Gisela Müller-Brandeck-Bocquet hier.

Migration: Einigkeit zur Uneinigkeit

Auf dem Gipfel in Brüssel sollte, so Donald Tusk, die „Einigkeit in den letzten Monaten“ genutzt werden, um auch bei dem umstrittenen Thema Migration zu grundlegenden Entscheidungen zu kommen. Vor dem Treffen war es dann allerdings Tusk selbst gewesen, der diese Einigkeit stark strapazierte. In seinem Einladungsschreiben an die Staats- und Regierungschefs äußerte er, nur die Mitgliedstaaten könnten effektive Lösungen für die Migrationskrise finden, während die Rolle der EU eine passivere sein müsse, die die Mitgliedstaaten lediglich unterstütze. Der bisherige Ansatz der EU, inklusive der Quoten für die Umverteilung von Flüchtlingen, sei höchst spaltend und vor allem ineffektiv gewesen.

Was folgte, war die erneute Spaltung der EU in West und Ost. Während vor allem die Visegrád-Staaten positiv auf Tusks Äußerungen reagierten, kritisierten die westlichen Mitgliedstaaten Tusks Vorstoß scharf. Keineswegs dürfe der Grundsatz der Solidarität in Frage gestellt werden, vor allem nicht in Themen wie Migration, in denen nur gemeinsam eine nachhaltige Lösung gefunden werden kann. Innen- und Migrationskommissar Avramopoulos wurde gar noch deutlicher: „Dieses , das Prinzip der Solidarität. Europa ohne Solidarität kann nicht existieren.“

„Europa ohne Solidarität kann nicht existieren“

Tusks Versuch, die Diskussion durch einen eigenen Vorstoß weiter voran zu treiben, führte also zu einer noch größeren Spaltung der EU. So lieferte man sich am Donnerstag während des Abendessens eine hitzige Diskussion zur künftigen Migrationspolitik, in der eines jedoch nicht erreicht werden konnte: eine Annäherung der Fronten. Es blieb bei denselben Absichtserklärungen, wie sie regelmäßig nach solchen Gipfeln getätigt wurden: durch Aufstockung der bereits existierenden Programme wolle man weiterhin die Unterstützung von Drittstaaten ausbauen. Zudem habe man über eine Entlastung der betroffenen Mitgliedsstaaten diskutiert. Konkrete Entscheidungen blieben jedoch aus – sie sollen erst im Sommer 2018 gefällt werden.

Auch kein Vorankommen in der Reform der Eurozone

Als besonders ambitioniert hatte im Vorfeld des Gipfels auch die Agenda für eine Reform der Eurozone gegolten. Treibende Kraft ist hier vor allem der französische Staatspräsident Macron, der durch seine Reformrede an der Universität Sorbonne den Prozess erst angestoßen hatte. Dabei standen vor allem Diskussionen zu einem Europäischen Finanzminister, der Überführung des Europäischen Stabilitätsmechanismus in die europäischen Verträge sowie eine Verbesserung der Fiskalregeln im Raum. Trotz dieser ambitionierten Agenda blieb der ER auch in diesem Punkt ergebnislos. Am stärksten machte sich hier erneut bemerkbar, dass es ohne eine neue deutsche Bundesregierung wohl nicht weiter gehen kann in Sachen Eurozonen-Reform. Zu weit auseinander liegen zudem bisher die Positionen von Macron und Merkel; vor allem Merkel kann sich aufgrund fehlender neuer Regierung und Mehrheit noch nicht klar positionieren. Immerhin gaben sich beide sich nach dem Gipfel auf einer gemeinsamen Pressekonferenz zumindest symbolisch geschlossen. Gemeinsam verkündeten Merkel und Macron, dass die Zeit die richtige sei, die Eurozone in der aktuell wirtschaftlich guten Lage voranzubringen. Bis März wolle man versuchen, eine gemeinsame Position zu finden.

Alles in allem erwies sich Merkels vorhergehende Skepsis bezüglich des Erfolgs des Gipfels am Ende also nur teilweise als zutreffend. Zwar gab es einerseits in Bezug auf Migration und die Eurozone keine Annäherungen zwischen den Mitgliedsstaaten und unterschiedliche, ja teilweise unvereinbare Positionen wurden noch deutlicher. Bei diesen politisch sensiblen Themen konnte der ER keinen Fortschritt erreichen. In den Bereichen Brexit und PESCO jedoch gelangen durchaus bedeutende Durchbrüche. Zwar waren dies lediglich formelle Beschlüsse zu Entscheidungen, die bereits zuvor von Kommission (Brexit) und Rat (PESCO) vorbereitet worden waren, die Bedeutung dieser Beschlüsse ist aufgrund des wegweisenden Charakters für beide Themen dafür umso größer. So ermöglichten erst die Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs am vergangenen Donnerstag und Freitag, dass das nächste Kapitel der Brexit-Verhandlungen aufgeschlagen bzw. mit der Umsetzung der PESCO-Projekte begonnen werden kann. Der letzte Europäische Rat im Jahre 2017 wird also als entscheidender Moment im Austrittsprozess des Vereinigten Königreichs sowie in der Neuausrichtung der gemeinsamen Verteidigungspolitik in Erinnerung bleiben.