Wieder eine bedeutende Brexit-Niederlage für Theresa Mays Regierung im britischen Unterhaus:  Mit 258:303 Stimmen votierte das Parlament am vergangenen Donnerstag, dem 14. Februar, gegen den aktuellen Brexit-Plan der Regierung. Zwar hat die Abstimmungsniederlage keinerlei rechtlich bindenden Auswirkungen, jedoch ist die symbolische Wirkung umso größer. So wird einmal mehr klar, dass das britische Unterhaus noch immer lediglich dazu im Stande ist, Positionen gegen mögliche Optionen zu fassen, anstatt Entscheidungen für einen Weg nach vorne zu treffen – und das obwohl der 29. März, der Brexit-Tag, nur noch wenige Wochen entfernt ist.

Doch wo befinden wir uns gerade? Ein kurzer Rückblick: Nach 18-monatigen Verhandlungen hatten sich die Delegationen der EU und Großbritanniens bereits am 14. November auf ein umfassendes Austrittsabkommen geeinigt. Dieses gewährleistet, (1) dass die Rechte der EU-Bürger, die in Großbritannien sowie die Rechte der Briten, die in der Europäischen Union leben, auch nach dem Brexit gewahrt bleiben, (2) dass Großbritannien seinen finanziellen Verpflichtungen, die es vor seinem Austritt eingegangen ist, erfüllt und (3) dass – gewährleistet durch den sogenannten irischen Backstop – die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland in jedem Fall und in jeglicher Hinsicht offen und das Karfreitagsabkommen, das den jahrzehntelangen irischen Konflikt befriedete, gewahrt bleibt. Dem Abkommen wird zudem eine allgemein gehaltene politische Erklärung zu den Absichten in Bezug auf die künftigen Beziehungen der EU und des Vereinigten Königreichs beigefügt.

Innerbritische Zerstrittenheit

Einmal mehr verhinderten jedoch innenpolitische Probleme in Großbritannien ein Votum zugunsten des Abkommens (vgl. mein Blogbeitrag vom 4. Juni 2018). So hatten sich in Mays eigener Conservative Party drei Gruppierungen formiert: eine Gruppe, die Mays Deal mit der EU befürwortete und als einzige Chance sah, einen harten Brexit abzuwenden, eine Gruppe, der das Abkommen nicht weit genug ging und die sich eine engere Bindung an die EU wünschten und schließlich die Gruppe der ultra Brexiteers, die das Abkommen strikt ablehnten, da der Deal für sie Großbritannien weiterhin zu stark im Einfluss der EU halten würde.

Im Angesicht einer sicheren Abstimmungsniederlage vertagte May die erste Abstimmung ihres Abkommens am 11. Dezember im Unterhaus, die sogenannte meaningful vote, auf Januar 2019. Wieder verstrich also wertvolle Zeit im Brexit Prozess. Wieder gelang es May nicht, ihre Partei und die Öffentlichkeit von ihrem Deal zu überzeugen. Auch Zugeständnisse und Klarstellungen der EU, die versicherte, dass der Backstop nur solange gelten solle, bis eine permanente Lösung mit Blick auf die künftigen Beziehungen gefunden sein wird, während gleichzeitig so schnell wie möglich versucht werden solle, eine solche zu verhandeln, führten zu keiner Verbesserung von Mays Position. Im Gegenteil: Bei der für den 15. Januar angesetzten meaningful vote scheiterte ihr Abkommen mit der EU mit 202:432 Stimmen – der größten Abstimmungsniederlage einer Regierung in der Geschichte Großbritanniens. Mehr noch: Das Parlament verpflichtete May, innerhalb von einer Woche einen Plan B zu präsentieren. Später erteilte das Parlament (der Antrag wurde gar von Mays Regierung unterstützt) May den Auftrag, nach Brüssel zurückzukehren, um den irischen Backstop neu zu verhandeln. Ein Unterfangen, das von der EU sofort nach der Verabschiedung dieses Antrags entschieden zurückgewiesen wurde.

Im Angesicht ihrer weiteren Niederlage am vergangenen Donnerstag steht May also vor einem Dilemma: das Unterhaus und Mays Partei sind in Bezug auf den Brexit so zerstritten, dass es keinerlei Mehrheit für irgendeines der möglichen Szenarien gibt. So erscheint eine Mehrheit für Mays Deal ohne die Änderungen, die von der EU aber entschieden zurückgewiesen werden, nahezu aussichtslos. Auch für ein oft ins Spiel gebrachtes zweites Referendum gibt es keine Mehrheit im Unterhaus; die Fraktion der Brexiteers hat weder genug Stimmen noch einen Alternativplan.

Die Beziehungen zwischen EU27 und Großbritannien auf einem Tiefpunkt

Hinzu kommt ein Vertrauensverlust und zunehmende Frustration gegenüber May von Seiten der EU27. Trotz schwieriger Verhandlungen und stetigem Auf und Ab in den Beziehungen zwischen May und den übrigen 27 Mitgliedsstaaten unterstützte die EU May vollumfänglich, ihren Deal durch das Parlament zu bringen. Spätestens seit Dezember änderte sich die Stimmung gegenüber May jedoch, als diese die Abstimmung des Abkommens im Unterhaus verschob, die Zeit für die Ratifizierung des Abkommens also weiter verkürzte und damit die Unsicherheit bezüglich des Brexit-Outcomes verlängerte – noch dazu, da May sich vehement für ein außerordentliches Treffen des Europäischen Rates eingesetzt hatte, um das Abkommen schnellstmöglich öffentlichkeitswirksam abzusegnen und so den Weg für ihre Abstimmung zu ebnen, die sie dann aber selbst absagte. Hinzu kam, dass May nie in der Lage war, gegenüber ihren europäischen Amtskollegen zu äußern, was genau sie brauche, um ihren Deal zu retten.

Doch nicht nur Vertrauen und Geduld gegenüber May gingen verloren. Auch kann die EU keine weiteren umfassenden Zugeständnisse machen, ohne ihre eigenen roten Linien zu überschreiten. Mays Hauptforderung, die Verhandlungen des Austrittsabkommens wieder zu öffnen, um den irischen Backstop zu verändern, stößt auf strikte Ablehnung in Brüssel. Zwar laufen aktuell wieder Gespräche für eine Nachverhandlung des Abkommens, inhaltliche Durchbrüche gab es dabei jedoch noch nicht. Für die EU geht es dabei vor allem darum, die Republik Irland geschlossen zu unterstützen, für die der aktuelle Backstop die einzige sichere Garantie für die Vermeidung einer harten Grenze und eines Wiederaufflammens des irischen Konflikts ist. Dabei steht es für die EU außer Frage, einen Mitgliedstaat in einer solch essentiellen Frage im Stich zu lassen (vgl. Analyse des EPC), nur um den Weg für einen künftigen Drittstaat zu vereinfachen. Alles in allem gibt es also wenig Handlungsspielraum für weitere Veränderungen des Abkommens. Gleichzeitig erscheint eine Verlängerung des Austrittszeitraums, der nach Artikel 50 EUV durch einstimmigen Beschluss der übrigen 27 Mitgliedstaaten möglich ist, nur dann denkbar, wenn Großbritannien einen aussichtsreichen Plan zum Abschluss des Prozesses präsentieren kann – denn der Appetit auf Seiten der EU27 für eine Verlängerung des Zeitraums scheint aufgrund längerer Unsicherheit und anstehender Europawahlen sehr verhalten.

Welcher Weg aus der Blockade?

Die einzige Möglichkeit, die sowohl für die EU akzeptabel wäre als auch zumindest die Chance auf eine Mehrheit im Unterhaus in Aussicht stellen würde, wäre,  die aktuell relativ generell gehaltene politische Erklärung über die künftigen Beziehungen zu konkretisieren. Dazu müsste May ihre Position erheblich in Richtung eines weicheren Brexits verschieben, sich also auch nach dem Austritt noch stark an die EU und ihre Regulierungen binden. In diese Richtung ging vor kurzem der Vorschlag des Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn, der in Aussicht stellte, Mays Abkommen zu unterstützen, wenn diese die politische Erklärung in Richtung eines weicheren Brexits konkretisiere. Dabei forderte er unter anderem eine permanente Zollunion mit der EU, eine enge Bindung an den europäischen Binnenmarkt und ambitionierte Abkommen mit der EU in weiteren Bereichen wie beispielsweise der inneren Sicherheit. Dieser Vorschlag wurde von gleich mehreren führenden EU Offiziellen befürwortet. Ein Kompromiss mit Corbyn gäbe May die Chance, diesen mit den Befürwortern ihres Deals und dem pro-EU-Lager ihrer Partei sowie mit der Labour Partei – also gegen die Hardliner in ihrer eigenen Partei – durch das Unterhaus zu bringen. In anderen Worten: May müsste die Einheit ihrer Partei für einen Kompromiss mit Corbyns Labour Partei opfern. Ein solcher Schritt erscheint im britischen politischen System mehr als fraglich.

Mit der Unfähigkeit des britischen Parlaments, sich auf eine gemeinsame Position für ein Szenario zu einigen, ist die wahrscheinlichste Option aktuell ein No Deal, also ein cliff edge Szenario. Dieser Fall tritt automatisch ein, sollten sich Großbritannien und die EU27 bis zum 29. März auf kein Austrittsabkommen geeinigt haben. Die Folgen eines solchen Szenarios wären für beide Seiten fatal. Für Großbritannien drohen dabei kilometerlange Staus an den großen Umschlagplätzen wie beispielsweise in Dover, die Unterbrechung zahlreicher Lieferketten in Industrie und Wirtschaft, des Flugverkehrs bis hin zu Engpässen bei lebenswichtigen Medikamenten oder gar zu gewalttätigen Ausschreitungen und damit zum Wiederaufflammen des Konflikts an der Grenze zwischen Nordirland und Irland.

Auch für die EU und ihre Mitgliedstaaten hätte ein No Deal Szenario wesentliche Folgen – wenn auch diese für einige Mitgliedsstaaten größer wären (v.a. Irland und Großbritanniens große Handelspartner wie Deutschland und die Niederlande) als für andere. Schließlich hätte ein solcher Ausgang ebenso erhebliche Folgen für Unternehmen und vor allem EU-Bürger in Großbritannien und Briten in der EU. Parallel zu den Nachverhandlungen mit Großbritannien arbeitet eine eigene Arbeitsgruppe in der Europäischen Kommission aktuell daher fieberhaft an einem No Deal Notfallplan, der dessen Folgen abmildern und vor allem ein größtmögliches Maß an Sicherheit für betroffene Bürger und Unternehmen schaffen soll. Ähnliche Arbeitsgruppen existieren im Rat sowie in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Die Nerven in den jeweiligen Planungsstäben liegen dabei blank, da man weder Ausgang der Verhandlungen noch das volle Ausmaß eines möglichen No Deal Szenarios abschätzen kann.

In den vergangenen Wochen wurde Theresa May oftmals die Absicht unterstellt, die Brexit-Uhr so weit herunterlaufen zu lassen, dass am Ende, kurz vor dem Austrittstag, lediglich die Alternative zwischen ihrem Abkommen oder einem No Deal cliff edge besteht. Damit, so ihr Plan, soll ihr Abkommen doch noch die nötige Mehrheit bekommen. Doch ob dieser Plan aufgeht, steht nach den letzten Monaten in den Sternen. Auch sechs Wochen vor dem Brexit bleibt damit vor allem eines: Ungewissheit.