„Die Europäische Union steht vor dem Kollaps“, so tönte Brexit-Wortführer und United Kingdom Independence Party (UKIP)-Vorsitzender Nigel Farage kurz nach Bekanntgabe des Ergebnisses der Volksabstimmung in Großbritannien vom 23. Juni 2016. Ins gleiche Horn stießen Rechtspopulisten in unterschiedlichsten Ländern. Der undemokratische und bürokratische Koloss der EU stehe vor dem Fall und endlich könnten die Länder wieder frei sein, so war die gemeinsame Stimmung der Feinde der europäischen Einigung. Mit etwas zeitlichem Abstand kann man konstatieren: Sie haben sich geirrt, sie haben sich gewaltig geirrt.
Die Zustimmungsraten zum Staatenverbund steigen quasi analog zur Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in England. Der Wert des Pfundes hat massiv verloren und parallel zu dieser Abwertung sinkt die Wirtschaftsleistung im Vereinigten Königreich. Die Europäische Union hingegen scheint sowohl die Euro-Krise als auch die Wirtschaftskrise überwunden zu haben. Spanien und Portugal florieren und selbst das krisengebeutelte Griechenland verzeichnet gute Wachstumsraten und kann sich bald wieder vollständig am freien Kapitalmarkt refinanzieren. Deutschland entwickelt sich seit Jahren prächtig, in vielen Gebieten der Bundesrepublik herrscht Vollbeschäftigung und der Wohlstand hat einen neuen Höchststand erreicht.
Dennoch sind viele Menschen unzufrieden. Diese Unzufriedenheit ist objektiv nicht gerechtfertigt, sie ist aber subjektiv durchaus wahrnehmbar. Menschen setzen sich stets in Relation zu anderen, entsprechend fällt es nicht auf, dass es einem selbst gut geht, selbst wenn jemand anders noch besser dasteht. Diese gefühlte und teils auch reelle Ungleichheit führt zu Unzufriedenheit und da wird natürlich ein Verantwortlicher gesucht.
Rechtspopulisten suchen Sündenböcke
Da es unangenehm ist, die Verantwortung für das eigene Schicksal bei sich selbst zu suchen, braucht man jemanden, der dies übernimmt. Rechtspopulisten nehmen diese „Suche nach den Verantwortlichen“ geschickt auf und bieten auch gleich eine Antwort an: Es sind „die“ Flüchtlinge, es ist die Merkel oder eben auch „die Bürokraten in Brüssel“ oder der Euro.
Die Menschen brauchen Ventile, um ihren Zorn über die Verhältnisse abzulassen. Pegida zum Beispiel richtete sich nicht nur gegen Flüchtlinge, diese Demonstrationen waren auch ein Zeichen gegen das sog. Establishment in Brüssel und Berlin. Die AfD ist eine Partei, die ein Ventil bietet, denen da oben mal zu zeigen, was das Volk denkt. Viele der Menschen, die bei den patriotischen „Europäern“ gegen die Islamisierung des Abendlandes mitlaufen oder die sogenannte Alternative für Deutschland wählen sind nicht rechtspopulistisch- oder rechtsextrem. Sie wollen aber einen Denkzettel verpassen und schreien nach Aufmerksamkeit. Gleichzeitig verkennen sie, welche Gefahr sie heraufbeschwören. Nämlich den Nationalismus in seiner schlimmsten Form. Eine Partei, die das Scheitern der Europäischen Union herbeiredet, kann letztlich auch dazu beitragen, dass diese tatsächlich scheitert. Der Nationalismus bietet vordergründig eine einfache Antwort auf die Ängste und Sorgen der Menschen. Die „böse“ Außenwelt wird ausgeklammert und schon kann der deutsche Staatsbürger wieder ruhig schlafen. Diese Vorstellung ist nicht nur naiv, sie ist auch gefährlich. Deutschland als Mittelmacht ist alleine viel zu schwach, um in einer globalisierten Welt bestehen zu können. Die Großmächte der Welt verfolgen ihre eigene Agenda und Deutschland kann in diesem Spiel der Mächte nur bestehen, wenn es sich Verbündete sucht. Diese Verbündeten sind unsere Freunde und Partner in Europa.
Eine pro-europäische Gegenbewegung entsteht
In der Physik gibt es den Satz von Bewegung und Gegenbewegung, dies gilt auch in der Politik. Als Reaktion auf die nationalistischen oder separatistischen Tendenzen und aus Sorge um das Projekt Europa haben sich endlich auch die Pro-Europäer gesammelt und wurden lauter und wahrnehmbarer. In Spanien entstand kurz nach der separatistischen Bewegung der Katalanen auch eine Bewegung der Einheit. In Deutschland entstand nach den Deutschland-Fahnen schwenkenden Pegida- Anhängern mit „Pulse of Europe“ eine Bewegung, die eben für Europa und gegen Nationalismus eintritt Der Wahlsieg von „En Marche“ in Frankreich war wohl der Höhepunkt des Sieges der Pro-Europäer. Nicht nur der Eurobarometer belegt, dass die Zustimmung zum „Gemeinsamen Europa“ wieder ansteigt; auch die Wirtschaftsleistung in ganz Europa wächst und belegt den Wert des gemeinsamen Projekts. Nachdem die EU nach Brexit und der Wahl in Amerika schwankte, scheint sie sich jetzt langsam zu konsolidieren. Die Bilder mit mehreren tausend Menschen, die bei „Pulse of Europe“-Versammlungen das Sternenbanner hochhalten, bleiben im Gedächtnis. Der „March of Rome“ mobilisierte Zehntausende in Italien. „Pulse of Europe“ brachte ein europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl auf die Straße. Die Bewegung „Stand Up For Europe“ spricht sich dezidiert für einen europäischen Bundesstaat aus. Die „Europa Union“ und viele weitere kämpfen für den Erhalt und auch die Fortentwicklung Europas. Selbst die deutsche Politik scheut sich nicht mehr, offen für die „Vereinigten Staaten von Europa“ zu werben. Wer weiß, vielleicht hätte der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ein besseres Ergebnis eingefahren, wenn er diese Vision schon im Wahlkampf kommuniziert hätte? In Summe ist deutlich spürbar, dass die Menschen den Wert Europas, das weit mehr ist als eine reine Wirtschaftszone, erkennen und dass derzeit so etwas wie ein europäisches „Wir-Gefühl“ entsteht. Das europäische Sternenbanner als Symbol der Einheit wird mittlerweile auch auf Privathäusern gehisst, der französische Staatspräsident trat am Tag des Wahlsieges in Paris zu den Klängen der Europahymne vor die Menschen. Wer hätte sich das am Tag des Brexit denn träumen lassen?
Dieses „Wir-Gefühl“ besteht aber nicht erst seit einigen Monaten. Bereits zu Zeiten von Robert Schumann, Jean Monnet und Altiero Spinelli gab es große pro-europäische Zivilbewegungen. Sogar die CSU bekannte sich zu den Vereinigten Staaten von Europa. Im Laufe der Zeit ging dieser Elan jedoch verloren im alltäglichen Klein-Klein von Bürokratie und nationaler Politik, deren Vertretern die Vision eines geeinten Europas aus dem Blick geriet – vielleicht, um ihre eigenen nationalen Pfründe zu sichern?
Zivilgesellschaftliches Engagement ist unverzichtbar
Umso erfreulicher ist, dass die Zivilgesellschaft Impulse gibt, die die Politik antreiben. Zivilgesellschaftliches Engagement ist eben genau das, was der Europäischen Union fehlte. Letztlich wurden die Deutschen nicht direkt gefragt, ob sie bereit sind, Teile der nationalen Souveränität aufzugeben. Diese Entscheidungen wurden von der politischen Klasse herbeigeführt. Gewiss kann man sagen, dass die Parteien in ihrer Transmissionsaufgabe für mehr Europa standen, dennoch hat es in Deutschland keine explizite Volksabstimmung zu diesem Thema gegeben. Umso wichtiger ist es daher, dass von der Straße klare pro-europäische Signale gesetzt werden, die durchaus in der Politik wahrgenommen werden. Nicht umsonst beziehen sich Politiker der pro-europäischen Parteien gerne auf „Pulse of Europe“ als Beleg für die pro-europäische Stimmung in der Bevölkerung. Gleichwohl leben zivilgesellschaftliche Initiativen nur solange, wie es Menschen gibt, die bereit sind, sich ehrenamtlich für ihre Ideale einzusetzen. „Pulse of Europe“ hat sich von einer Initiative der Straße zu einem eingetragenen Verein entwickelt. Momentan gibt es noch keinen europäischen Verein, entsprechend ist es ein deutscher e.V. Derzeit plant der Verein weitere Aktionen, an denen sich alle Menschen beteiligen können, die verstärkt für Europa eintreten wollen. Einen anderen Weg gehen möglicherweise die zivilgesellschaftlichen Initiativen „Stand Up For Europe“ oder „Volt Europe“. Deren Mitglieder diskutieren derzeit, ob sie als transnationale Partei bei den Europawahlen antreten wollen.
Wesentliches Anliegen und Ergebnis aller pro-europäischen zivilgesellschaftlichen Initiativen ist, dass Europa nicht als Projekt der Eliten wahrgenommen wird, sondern dass eine Identifikation der Menschen mit „ihrer“ Heimat Europa stattfindet. Europa ist Realität, aber auch eine Vision und diese Vision wird nur durch engagierte Menschen zum Leben erweckt.