Fast sechs Monate hat es gedauert, bis auf der Grundlage des komplizierten Wahlergebnisses vom 24.9.2017 eine neue deutsche Bundesregierung gebildet werden konnte. Hier zeigt sich, dass unser Verhältniswahlrecht mit der fünf-Prozent-Klausel im momentanen Sieben-Parteien-System zu großen Problemen beim Schmieden tragfähiger Koalitionen führt. Nach dem Scheitern der Verhandlungen zu einer schwarz-gelb-grünen Jamaika-Koalition am 19.11.2017 wird Deutschland nun also erneut von einer großen Koalition aus CDU/CSU und SPD regiert werden, der dritten unter Kanzlerin Angela Merkel.  Der Weg dahin war äußerst zeitintensiv und steinig, weil nach Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen noch die Zustimmung von Parteivorstand (CSU) und Parteitag (CDU) sowie – vor allem – das Votum der SPD-Mitglieder abgewartet werden musste.

Letzteres ist dann am 4.3.2018 bekannt gegeben worden, mit 66 Prozent fiel die Zustimmung zu dieser erneuten großen Koalition (GroKo) überraschend hoch aus. Doch trotz großen Unbehagens in weiten Teilen der Partei und insbesondere trotz des dezidierten No-GroKo-Kurses der Jusos hat insofern die Vernunft obsiegt, als dass jedes SPD-Mitglied sich wohl bewusst war, dass Neuwahlen die Sozialdemokraten mutmaßlich noch weiter hätten abstürzen lassen, noch unter die miserablen 20,5 Prozent vom 24.9.2017. Ob die Partei mit dieser dritten, Merkel-geführten GroKo ihren Frieden wird schließen können, hängt in großem Maße von der neuen Parteiführung unter Andrea Nahles ab und vom Geschick der SPD-Ministerriege, die sozialdemokratischen Beiträge zur Bundespolitik sichtbarer zu machen. Die entsprechenden verheerenden Defizite der vergangenen Legislaturperiode müssen ja nicht zwangsläufig wiederholt werden.

Nicht zu vergessen ist ebenfalls, dass sich auch im Unions-Lager einiges geändert hat im Verlauf dieser letzten Monate: die Kanzlerin hat viel von ihrem Erfolgsnimbus verloren, es rumort auch in der CDU und der Kampf um Merkels Nachfolge hat schon begonnen. Soll heißen, dass die erneute GroKo keineswegs der vergangenen gleichen muss; in allen beteiligten Parteien besteht großer Bedarf nach Profilierung und Neuanfang. Außerdem liegt es nun in Händen der Regierenden, die Bedingungen zu schaffen, dass bei der nächsten Bundestagswahl nicht wieder sieben Parteien Einzug ins Hohe Haus werden halten können. Ein gutes Ende für die neue GroKo und für Deutschland ist bei entsprechend starker Leistung also durchaus möglich.

Europa im Koalitionsvertrag

Der Koalitionsvertrag vom 7.2.2018 trägt den Titel: „Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“ und veranschaulicht bereits damit den prominenten Stellenwert, den er der deutschen Europapolitik, der Europäischen Union und ihrer Zukunft einräumt. In der Tat betont das vierseitige, einschlägige erste Kapitel „Ein neuer Aufbruch für Europa“ zunächst die Bedeutung der EU für Deutschlands Sicherheit und Wohlstand, um sodann große Sorgen um den Fortbestand dieser Erfolgsgeschichte zu artikulieren.

Die veränderte internationale Lage – „neue Schwerpunktsetzungen in den USA, das Erstarken Chinas und die Politik Russland“ führt zum Bekenntnis: „Europa muss sein Schicksal mehr als bisher in die eigenen Hände nehmen“. Es folgt die Beschreibung dessen, was Deutschland zur Erneuerung der EU und zu deren neuem Aufbruch beitragen möchte. Dies wird recht ausführlich unter vier Zwischenüberschriften ausformuliert: „Wir wollen ein Europa der Demokratie und Solidarität“, „ein Europa der Wettbewerbsfähigkeit und der Investitionen“, „der Chancen und der Gerechtigkeit“, „des Friedens und der globalen Verantwortung“.

Konkret heißt es in diesem Europakapitel: „Um diese Ziele zu erreichen, wollen wir die EU in ihrer Handlungsfähigkeit stärken. […] Wir wollen die EU finanziell stärken, damit sie ihre Aufgaben besser wahrnehmen kann. […] Wir sind zu höheren Beiträgen zum EU-Haushalt bereit.“ Es folgt das Bekenntnis, „in enger Partnerschaft mit Frankreich die Eurozone nachhaltig stärken und reformieren“ zu wollen. Zweifelsohne vorrangig an Paris adressiert sind die Sätze: „Dabei bleibt der Stabilitäts- und Wachstumspakt auch in Zukunft unser Kompass […] Zugleich muss auch künftig das Prinzip gelten, dass Risiko und Haftungsverantwortung verbunden sind“. Andererseits wird explizit die deutsch-französische Motorenrolle und deren avantgardistische Verpflichtung beschworen: „Die Erneuerung der EU wird nur gelingen, wenn Deutschland und Frankreich mit ganzer Kraft gemeinsam dafür arbeiten. […] Wir wollen gemeinsame Positionen möglichst zu allen wichtigen Fragen der europäischen und internationalen Politik entwickeln und in den Bereichen, in denen die EU mit 27 Mitgliedstaaten nicht handlungsfähig ist, vorangehen.“ Deutlicher kann man den deutsch-französischen Führungsanspruch, aber auch die gemeinsame Verantwortung für Europa kaum formulieren.

Deutschlands Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Koalitionsvertrag

Weitere zentrale europapolitische Aussagen finden sich im 12. Kapitel des Koalitionsvertrags „Deutschlands Verantwortung für Frieden, Freiheit und Sicherheit in der Welt“. Diese deutsche Verantwortung wird in auffallend hohem Maße mit dem EU-Handeln verknüpft, in den Verantwortungsbereich der EU eingebunden. Mehrfach wird die notwendige Stärkung der Gestaltungsmacht der EU, eine größere Verantwortungsübernahme seitens der EU eingefordert, explizit auch im Bereich der „Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeit“.

Neben dem Bekenntnis zur erst im Dezember 2017 beschlossenen Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) im Verteidigungsbereich kündigt der Koalitionsvertrag eine vergleichbare Initiative für die zivile Dimension von Kriseninterventionen an. An Deutschlands tradierter, doppelter sicherheits- und verteidigungspolitischer Verankerung sowohl diesseits als auch jenseits des Atlantik wird sich trotz PESCO wohl aber nichts ändern, heißt es höchst aufschlussreich: „Wir wollen transatlantisch bleiben und europäischer werden.“

In diesem 12.  Kapitel erfolgt dann auch die Festlegung, die Verteidigungsausgaben sowie „die Mittel für Krisenprävention, humanitäre Hilfe, auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit […] im Verhältnis von eins zu eins“ zu erhöhen. Damit möchte die künftige Bundesregierung „sowohl dem Zielkorridor der Vereinbarungen in der NATO folgen als auch den internationalen Verpflichtungen zur weiteren Steigerung der ODA-Quote nachkommen“. Deutschlands ODA-Quote (Official Development Assistance), das sei hier angemerkt, lag 2017 erstmals bei den geforderten 0,7 Prozent des BIP, einer Festlegung aus dem Jahr 1972; denn die hohen internen Ausgaben für die Flüchtlingspolitik wurden eingerechnet.

Soweit also zu den wichtigsten europa- und außenpolitischen Festlegungen des Koalitionsvertrags. Auffällig ist, dass dieser Vertrag sehr betont EU-freundlich formuliert ist, mit echtem Herzblut geschrieben und von großem Engagement geprägt – was wohl auch daran liegt, dass der hochangesehene langjährige Präsident des Europäischen Parlaments und überzeugte Europäer, Martin Schulz, mitverhandelt hat.

Brechen nun rosige Zeiten für Brüssel (und Paris) an?

Wie gezeigt werden konnte, ist das Bekenntnis der künftigen GroKo zur EU sehr groß, der skizzierte deutsche Beitrag zu deren als notwendig erachteten neuem Aufbruch beachtlich ehrgeizig und finanziell großzügig.

Doch was heißt das für die EU-27? Wird das Ringen um Erhalt, Erneuerung und Stärkung der Union nun leicht wie ein Kinderspiel?

In Brüssel und in weiteren europäischen Hauptstädten überwiegt die Erleichterung, dass es wieder zu einer GroKo kommt, deren Hauptprotagonisten und Grundlinien man gut kennt und mit denen man ja auch in der Vergangenheit, nach dem Schock des Brexit-Votums, viele wichtige Schritte zur Konsolidierung der EU-27 hatte gehen können. Insbesondere Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dürfte von der GroKo begeistert sein, hatte er seine eigene Europa-Agenda doch durch eine eventuelle Regierungsbeteiligung der FDP im Rahmen einer Jamaika-Koalition in hohem Maße gefährdet gesehen. Mit Blick auf die harte Haltung der Liberalen in Sache Weiterentwicklung der Eurozone hatte er sich hochgradig alarmiert gezeigt. Sollte Angela Merkel mit den Liberalen koalieren, dann sei er tot, hatte er noch vor der Bundestagswahl orakelt.

Dass es nun ganz anders gekommen ist, heißt aber keineswegs, dass die neue GroKo alle Einzelheiten der hochfliegenden Pläne Macrons für die EU mittragen wird. Besonders im Hinblick auf jedwede Entwicklung in Richtung einer Transferunion, einer Vergemeinschaftung von Staatsschulden etc. wird es weiterhin ein deutsches Veto geben. Auch im Bereich der derzeit entstehenden EU-Sicherheits- und Verteidigungsunion wird es bei den altbekannten Gegensätzen zwischen den französischen und den deutschen Positionen bleiben. Und auch die Europäische Kommission hat in den letzten Tagen bereits feststellen müssen, dass die Exportnation Deutschland den freien Handel auch gegen protektionistische Vorhaben aus Washington und entsprechende Retourkutschen aus Brüssel vehement verteidigen wird.

Kurz: Diese und viele andere Aussagen des Koalitionsvertrags belegen, dass die deutsche Europapolitik der neuen GroKo zwar – wie bereits erwähnt – dezidiert EU-freundlich ausbuchstabiert und erfrischend zupackend formuliert ist, dass gleichzeitig aber die Grundfeste eben dieser deutschen Europa- und vor allem Europolitik und damit die deutsche Europa-Orthodoxie gewahrt bleiben. Nichts wirklich positiv Neues aus Berlin also? Auch diese Sichtweise würde zu kurz greifen.

Die neue Bundesregierung verschafft der EU Rückenwind

Vielmehr profitiert die EU in aller erster Linie und in hohem Maße von der schlichten Tatsache, dass Deutschland wieder eine voll handlungsfähige Regierung hat, die sich der aktuellen Gefährdungen der Integrationsgemeinschaft bewusst und die zu deren Erhalt, Erneuerung und Stärkung fest entschlossen ist. Dies schafft eine gute, eine notwendige Voraussetzung, um den Konsolidierungskurs, den die EU-27 seit dem Schock des Brexit-Votums eingeschlagen hat, fortzuführen und zu vollenden. Denn in der Tat: Trotz allem, trotz Brexit und Donald Trump, trotz Flüchtlingskrise, grassierendem Rechtspopulismus und Angriffen auf die rechtstaatliche Ordnung in einigen EU- Mitgliedstaaten, hat die EU im Verlauf des letzten Jahres wieder Tritt gefasst. Diese Entwicklung gilt es nun unumkehrbar zu machen, um den notwendigen Erneuerungsprozess anzupacken und zum Erfolg zu bringen.

Nach dem Wahlsieg Emmanuel Macrons vom 7.5.2017 und dem Amtsantritt der neuen deutschen Bundesregierung, geplant für den 14.3.2018, ist das Kraftzentrum Europas wieder handlungsfähig. Es wird nicht nur die derzeit unter Führung der Niederlande lautstark artikulierten, leicht Europa- und Euro-skeptischen Vorbehalte aus acht kleinen EU-Mitgliedstaaten aufgreifen, berücksichtigen und einbinden; denn das war schon immer die Aufgabe und das Erfolgsrezept des „deutsch-französischen Motors der Integration“. Das Kraftzentrum wird hoffentlich auch das jüngste Wahldebakel in der EU, den Ausgang der italienischen Wahlen vom 4.3.2018, zu entschärfen wissen. A propos: Nichts beweist die Unverzichtbarkeit des „deutsch-französischen Motors der Integration“ besser als Italiens jahrzehntelange Unfähigkeit, sich dem Motor verlässlich anzuschließen. Dabei bräuchten wir Euch, liebe Italiener, doch so sehr!