Was bisher geschah

Die Brexit-Verhandlungen befinden sich aktuell in einer entscheidenden Phase. Nach Abschluss der Phase 1 der Verhandlungen, die sich mit den Voraussetzungen eines geregelten Austritts aus der EU beschäftigt hatte (ich berichtete darüber bereits in einem Beitrag im Dezember), begann Anfang 2018 Phase 2 zur Aushandlung des künftigen Verhältnisses der EU zum Vereinigten Königreich (UK). Gestartet wurde dabei mit der Verhandlung eines Übergangszeitraums, dessen Sinn darin liegt, ein sogenanntes cliff-edge-Szenario zu vermeiden, also dass am 30. März 2019 – dem Tag nach dem offiziellen Austritt – jeglicher Waren- und Personenverkehr zwischen der EU und Großbritannien aufgrund fehlender Bestimmungen zum Erliegen kommt. Dadurch soll Zeit geschaffen werden, das künftige Abkommen zu implementieren. In der Tat einigte man sich nach nur sechswöchigen Verhandlungen am 19. März auf einen solchen Übergangszeitraum, der bis zum 31. Dezember 2020 gelten soll. Zwischen März 2019 und Dezember 2020 nimmt das Vereinigte Königreich zwar weiterhin am Binnenmarkt teil, ist jedoch nicht mehr in den EU-Institutionen vertreten und kann somit nicht mehr an EU-internen Entscheidungen teilnehmen. Großbritannien wird somit für diesen Zeitraum ausschließlicher rule-taker, ohne weiteren Einfluss ausüben und mitentscheiden zu können.

Seit dieser Einigung im März soll nun verhandelt werden, wie das künftige Verhältnis beider Parteien nach Ende des Übergangszeitraums aussehen soll. Viel Zeit bleibt dafür nicht: Denn trotz des Übergangszeitraums muss ein Abkommen bis zum Tag des offiziellen EU-Austritts, dem 29. März 2019, beschlossen sein. Das bedeutet jedoch, dass das Abkommen zwischen beiden Parteien bis dahin nicht nur ausgehandelt, sondern auch von Europäischem Parlament und Mitgliedsstaaten ratifiziert sein muss. Ein Abkommen müsste somit bereits im Oktober 2018 vereinbart sein, damit noch ausreichend Zeit für diese Schritte bleibt, es zu ratifizieren. Noch gerade einmal fünf Monate also, bis eine finale Einigung zwischen den Unterhändlern der Kommission und der britischen Regierung stehen muss.

Doch seit dieser Einigung im März 2018 sind die Verhandlungen festgefahren. Das Problem liegt dabei vor allem am Mangel an konkreten Vorstellungen, wie die künftigen EU-UK-Beziehungen nach Ablauf des Übergangszeitraums aussehen könnten. EU-Chefunterhändler Michel Barnier beklagte vor kurzem den geringen Fortschritt in den Verhandlungen seit März. Das Problem sieht die EU-Seite dabei bei der britischen Regierung. „The reality is, absolutely nothing has happened in the last couple of weeks. We are waiting for something to emerge from London – but we don’t have any great hope”, monierte ein EU-Diplomat gegenüber Politico.

Probleme und Streitigkeiten: May‘s Brexit mess

Wieso lässt das Vereinigte Königreich aber die so wertvolle Zeit für die Verhandlungen verstreichen? Grund dafür sind innerbritische Streitigkeiten zur Positionierung der Regierung in den Verhandlungen. Konkret geht es um die künftige wirtschaftliche Bindung Großbritanniens an die EU. In dieser Frage hat Theresa May gleich an mehreren Fronten zu kämpfen. Ihr größtes Problem dabei kommt aus ihrer eigenen Regierung. Nach dem Rücktritt ihrer proeuropäischen Innenministerin und engen Verbündeten Amber Rudd im Zuge des Windrush-Skandals und der Ernennung des EU-skeptischeren Sajid Javid ist sie in ihrem Brexit War Cabinet mit einer Mehrheit der Brexiteers gegen sich konfrontiert. Ihr eigener Vorschlag, nach dem Austritt eine dauerhafte Zollpartnerschaft (Customs Partnership) mit der EU einzugehen, wird von nun sechs der elf Minister im War Cabinet stark abgelehnt. Bei dieser Zollpartnerschaft würde sich Großbritannien stark an die EU-Zollunion binden. Das Vereinigte Königreich würde in diesem Fall den Außenzoll für Waren, die über Großbritannien in die EU gelangen, ‚freiwillig‘ übernehmen, diesen einziehen und direkt an die EU weitergeben. So soll eine möglichst enge Bindung beider Seiten auch nach dem Brexit gewährleistet bleiben. Die Brexiteers in Mays Regierung lehnen diesen Vorschlag jedoch genau wegen dieser weiterhin bestehenden engen Bindung ab. Stattdessen schlagen sie eine andere Lösung, die sogenannte Maximum Facilitation (kurz: max fac), vor. Hier wäre Großbritannien komplett außerhalb der europäischen Zollunion, jedoch sollen Grenzkontrollen durch neue Technologien auf ein Minimum reduziert werden. Aufgrund dieses Streits lag das Kabinett für Wochen lahm; May hatte es mit einem offenen Affront gegen sich in ihrem eigenen Kabinett zu tun, ihre Position war angeschlagen. Der Premierministerin gelang es zudem nicht, einen Kompromissvorschlag auszuarbeiten, dem beide Seiten zustimmen konnten. Stattdessen wurde der kabinettsinterne Kampf zunehmend öffentlich ausgetragen. Anfang Mai meldete sich Außenminister Boris Johnson beispielsweise mit einem aufsehenerregenden Interview zu Wort, in dem er die Pläne der Premierministerin als ‚verrückt‘ bezeichnete und sie beschuldigte, mit der darin vorgeschlagenen engen Bindung an die EU das Ergebnis des Brexit-Referendums zu verraten. Nur wenige Tage später reihte sich Umweltminister Michael Gove in die Kritik ein, indem er öffentlich in Frage stellte, ob Mays System überhaupt funktionieren würde. Die Versuche Mays, einen Kompromiss herzustellen, wurden durch die öffentliche Kritik an ihrer Person zunichtegemacht. Eine Lösung des Streits durch die Premierministerin blieb nach zahlreichen Treffen des War Cabinets bis Mitte Mai aus: „Theresa May needed a compromise. She failed – and now she’s in real trouble“ urteilten Tom McTague und Charlie Cooper mit Berufung auf Informationen aus Regierungskreisen, May könne sich nur als Premierministerin halten, wenn sie innerhalb einer Woche einen Kompromiss herbeiführen könne.

Doch nicht nur mit dem eigenen Kabinett hat May dieser Tage zu kämpfen. Auch aus dem weiteren Kreis ihrer Partei – von sogenannten Backbenchers im Unterhaus – kommt Kritik. Da wäre auf der einen Seite eine kleine Gruppe von EU-Befürwortern ihrer Conservative Party, die bereits im April eine Debatte (gegen die eigene Regierung) zum vollständigen Verbleib im Binnenmarkt erwirkt hatten – mit dem Ergebnis, dass eine nicht-bindende Resolution zu eben jenem Verbleib des UK in der Zollunion verabschiedet wurde. Auf der anderen Seite machte eine Gruppe von ca. 30 Hardliner-Brexiteers auf sich aufmerksam, die sich Anfang Mai mit einem geleakten Brief an einzelne Kabinettsmitglieder ebenfalls gegen May stellten, um für einen Komplettausstieg aus dem Binnenmarkt zu plädieren. Mitglieder dieser Gruppierung, vor allem der Abgeordnete Jacob Rees-Mogg, holten dabei regelmäßig zum verbalen Schlag gegen die Pläne der Premierministerin aus. Gerade im Hinblick darauf, dass May aktuell von einer Minderheitenregierung, gestützt von der nordirischen DUP, abhängig ist, ist diese Spaltung ihrer eigenen Partei in drei Lager – die EU-Befürworter, Mays Lager und die Hardliner-Brexiteers – ein beinahe unüberwindbares Hindernis. Denn alle drei Seiten hinter einen Kompromiss zu vereinen, scheint unmöglich.

Jenseits ihrer eigenen Partei war es zudem immer wieder das House of Lords, das Theresa May in Bedrängnis brachte. Dabei ging es vor allem um die Debatte zur EU Withdrawal Bill, die nach dem Austritt die Umwandlung europäischen Rechts in britisches Recht gewährleisten soll, um ein Rechtsvakuum zu vermeiden. So fanden in den letzten Monaten fünfzehn Abstimmungen zu Ergänzungen des Gesetzes eine Mehrheit gegen Mays Regierung. Besonders aufsehenerregend war dabei die letzte der Ergänzungen, die einen Verbleib Großbritanniens im Binnenmarkt (nicht nur der Zollunion) zur Priorität der Regierung in den Verhandlungen machen will. All diese Vorschläge müssen nun nochmals im Unterhaus beraten und abgestimmt werden. Zwar darf daran gezweifelt werden, dass die Ergänzungen tatsächlich angenommen werden, öffentlicher Widerstand gegen May und eine weitergehende Diskussion zur Art des Brexits hat man damit jedoch sicherlich erreicht.

Schließlich tat sich für May in den letzten Wochen noch ein vierter kritischer Schauplatz auf: die schottischen und nordirischen Regionen. In Nordirland beispielsweise nahm die Zustimmung zu einer Wiedervereinigung mit der Republik Irland in den letzten Wochen immer weiter zu. Gleichzeitig lehnt die überwältigende Mehrheit der Nordiren jegliche Kontrollen an den Grenzen zur Republik Irland ab, wobei viele ebenfalls davon ausgehen, dass solche Kontrollen ein schnelles Wiederaufflammen von Gewalt in Nordirland zur Folge hätten. Ca. zehn Prozent der nordirischen Katholiken würden gewaltsame Ausschreitungen aufgrund einer Wiedereinführung von Grenzkontrollen gar unterstützen. Unterdessen lehnte das Regionalparlament in Schottland in einer weitreichenden Abstimmung am 15. Mai die EU Withdrawal Bill ab, da aus Sicht der schottischen Regierung nach dem Brexit zu viele der von der EU zurückverlagerten Kompetenzen nach London gingen. Schottland erhoffte sich hier eine größere regionale Mitbestimmung. Zwar ist diese Abstimmung nicht bindend und kann von Westminster einfach überstimmt werden, ein solcher Fall wäre aber in der Geschichte des Vereinigten Königreichs einmalig – bisher ging die britische Regierung auf solche Abstimmungen in Regionen immer in Form von Nachverhandlungen mit den entsprechenden regionalen Regierungen ein. Auch hier steckt May also in der Zwickmühle: Geht sie auf die schottische Regierung ein, riskiert sie, den ohnehin schwachen Rückhalt in ihrer Partei weiter zu gefährden und zudem eine Kettenreaktion auszulösen, da es nicht unwahrscheinlich erscheint, dass in diesem Fall auch Wales und Nordirland weitere Autonomierechte einfordern könnten. Überstimmt sie die Abstimmung in Schottland und gibt keinerlei weitere Rechte an Edinburgh ab, riskiert sie, die ohnehin proeuropäische und London-kritische Stimmung in Schottland weiter anzuheizen und so den Weg für ein weiteres, diesmal erfolgreiches Unabhängigkeitsreferendum zu ebnen. Diese Malaise wurde durch einen Besuch der schottischen First Minister Nicola Sturgeon am 28. Mai in Brüssel gar noch größer. Denn Sturgeon forderte einmal mehr, dass Großbritannien auch nach dem Brexit im Binnenmarkt verbleiben sollte. Zudem betonte sie, dass die schottische Regierung einen Sonderstatus Nordirlands in Bezug auf einen besseren Zugang zum europäischen Markt nur dann billigen würde, wenn für Schottland dieselben Regelungen gelten würden. Mit öffentlicher Kritik und Revolten aus den eigenen Reihen wie auch in Westminster und den Regionen und dem Druck, möglichst schnell einen Kompromiss aller Beteiligten herbeizuführen, ist Theresa May zweifellos in keiner beneidenswerten Lage.

Die Schwachstellen der britischen Vorschläge

Hinzu kommt, dass die Kritik an Mays Plänen nicht nur innerbritisch ist. Auch von EU-Seite wurden beide Vorschläge zu den künftigen Beziehungen – die Zollpartnerschaft und max fac – rasch zurückgewiesen. Zwar kann dies sicherlich auch mit verhandlungstaktischen Überlegungen der EU zusammenhängen, um die eigene Position zu stärken, in der Tat weisen beide Vorschläge jedoch große Schwächen auf. So wäre die Zollpartnerschaft lediglich eine leicht abgewertete Form einer Zollunion, allerdings mit enormem zusätzlichen Verwaltungsaufwand – ein undurchführbares Unterfangen, so die Brüsseler Verhandlungskreise. In Bezug auf das maximum facilitation Modell der Brexiteers lässt sich feststellen, dass der aktuelle Stand der Technik die Umsetzung des Vorhabens schlichtweg noch nicht erlaubt. Eine Entwicklung dieser Techniken würde noch einige Jahre dauern. Weiterhin wird das max fac Modell von seinen Unterstützern oft als Lösung für das Problem der irischen Grenze herausgestellt. So ist die von der EU gewährleistete durchlässige Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland einer der Kernpunkte des Good Friday Agreements. Allerdings ist der Erhalt dieser weichen Grenze durch max fac keineswegs gewährleistet, denn auch wenn Grenzkontrollen auf einem Minimum gehalten werden sollten, wären sie, wenn auch in geringer Anzahl, dennoch faktisch vorhanden. Ein sogenannter backstop, also die sichere Gewährleistung einer komplett durchlässigen Grenze wäre also auch hiermit nicht gewährleistet.

May arbeitet daher aktuell daran, Lösungen für diese Probleme zu finden und tut dies mit ungewöhnlichen, von einigen belächelten Mitteln: so teilte sie ihr War Cabinet in zwei Gruppen auf, die beide – sozusagen in Gruppenarbeit – Lösungen für je einen der Vorschläge ausarbeiten und im Anschluss dem gesamten War Cabinet vorstellen sollen. Auch wenn unklar ist, ob genau diese Gruppenbildung dazu beigetragen hat: Mays Regierung präsentierte Mitte Mai in der Tat einen neuen Vorschlag. Dieser sieht vor, dass es nach Ende des offiziellen Übergangszeitraums Ende 2020 einen weiteren Übergangszeitraum geben soll, in dem Großbritannien in der Zollunion verbleibt, bis eine andere Lösung gefunden ist. Auch dieser Vorschlag erntete aber sogleich Kritik – diesmal von beiden Seiten: einerseits warnten die Hardliner-Brexiteers im britischen Parlament davor, eine solche Lösung könnte die Hintertür dafür öffnen, den zweiten Übergangszeitraum zu verstetigen, sodass Großbritannien dauerhaft in der Zollunion verbleiben würde. Die EU kritisierte ihrerseits, dass ein solcher Kompromiss nicht realisierbar sei. So sollte die Mays neuester Vorschlag zwar unter anderem dazu dienen, nach dem Ende des offiziellen Übergangszeitraums 2020 die weiche Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland sicher zu erhalten. Mays Vorschlag trägt dazu jedoch nur bedingt bei: ein backstop, der zeitlich begrenzt ist, sei in der Realität kein solcher, so EU-Offizielle; Mays Vorschlag löst das irische Problem also nur dann, wenn von vorne herein sichergestellt ist, dass er am Ende von einer Lösung ersetzt wird, durch den das irische Grenzproblem nachhaltig gelöst ist. Eine solche fehlt in den Vorschlägen der Premierministerin jedoch noch immer.

Versöhnlicher Neustart?

Trotz der Kritik hat dieser jüngste Vorschlag der britischen Regierung zumindest eines bewirkt: nach wochenlangem Stillstand in den Verhandlungen hat man nun wieder eine Ausgangsposition, auf deren Grundlage Gespräche zwischen EU und Großbritannien stattfinden können.

Spätestens bis zum Europäischen Rat am 28. und 29. Juni sollen beide Seiten eine Lösung für das Nordirland-Problem gefunden haben. In der Tat haben die Verhandlungen in der letzten Woche wieder an Dynamik gewonnen. In dieser Hinsicht ist auch die Ankündigung der britischen Regierung, im Laufe des Junis ein 100-seitiges Weißbuch zu veröffentlichen, als konstruktiver Schritt zu sehen. Dieses soll die britischen Verhandlungspositionen in allen noch offenen Fragen darlegen und dürfte so eine verlässliche Ausgangsposition für weitere Verhandlungen darstellen. Auch David Davis‘ neuester Vorschlag zur Einrichtung einer Pufferzone entlang der irischen Grenze sorgte, wenngleich auch dessen Umsetzung irreal anmutet, zumindest für eine progressivere Richtung, in die sich die Verhandlungen nun entwickeln könnten. Dafür scheint es im Hinblick auf die lange Liste der zu verhandelnden Themen auch höchste Zeit. Neben dem größten Block der künftigen wirtschaftlichen Zusammenarbeit und dem Nordirland-Problem ist schließlich noch die juristische Governance des Abkommens ein offener Verhandlungspunkt, also die Frage, wie künftig die rechtmäßige Umsetzung des geschlossenen Abkommens sichergestellt wird (durch EuGH oder eine neue unabhängige Institution). Bereiche wie die künftige Kooperation in der Sicherheitspolitik oder Verfolgung internationaler Kriminalität sind zudem noch nicht einmal tiefergehend thematisiert worden. Weiterhin gilt also: von einer Einigung ist man noch weit entfernt. Und das, obwohl die Zeit bis zu jenem Tag im Oktober, an dem das ausgehandelte Abkommen stehen muss, immer knapper wird. Oder um es mit den Worten Michel Barniers  zusammenzufassen: „The clock is ticking“.