Der Brexit hält Europa nun schon seit dem Referendum vom 23.6.2016 in Atem und hat sich seit der Aktivierung des Austrittsartikels 50 EUV am 29.3.2017 durch die damalige britische Premierministerin Theresa May immer mehr zu einem wahrhaften Desaster, zu einem Schrecken ohne Ende entwickelt. May war es in drei Abstimmungen im Unterhaus nicht gelungen, für das am 14.11.2018 mit der EU ausverhandelte Austrittsabkommen eine Mehrheit zu erringen. Daher wurde der ursprüngliche Austrittstermin des 31.3.2019 auf den 31.10.2019 verschoben. May trat am 7.6.2019 zurück, ihr Nachfolger wurde Boris Johnson, der als glühender Verfechter eines Halloween-Brexits zum 31.10.2019, notfalls auch ohne Vertrag, also als No-Deal-Brexit, agiert und mit markigen Sprüchen wie „Get Brexit done“ sowie „Do or die” für seinen Kurs wirbt.

Doch wer meinte, dass das politische Chaos, das seit Jahren im Vereinigten Königreich herrscht, nach Theresa Mays unglücklichem und erfolglosem Kurs nicht mehr zu toppen sei, der wurde in den letzten Wochen eines Besseren belehrt. Die Vorgänge um den No-Deal-Brexit oder einen Brexit mit Austrittsabkommen haben inzwischen derart zahlreiche und absurde Volten geschlagen, dass kaum einer mehr mitkommt. Daher soll im Folgenden eine schlichte Chronik der sich fast täglich verändernden Brexit-Ereignisse vorgelegt werden, um zumindest ansatzweise den Überblick in diesem Endlosdrama zu behalten. Diese Chronik beginnt mit dem 3.9.2019, dem ersten Sitzungstag des britischen Unterhauses nach der Sommerpause. Sie stützt sich auf die Presseberichterstattung und geht durchaus mit dem Mut zur Lücke vor.

Herbe Niederlagen für Boris Johnson

Am Dienstag, 3.9.2019, wurde auf Initiative des Labour-Abgeordneten Hilary Benn in Westminster ein Gesetz eingebracht, das einen No-Deal-Brexit verhindern sollte, des Inhalts, dass der Premier Johnson eine Verschiebung des Austrittsdatums bis Ende Januar 2020 beantragen muss, wenn er nicht bis zum 19.10.2019, dem Tag nach dem Gipfel des Europäischen Rats, einen neuen Deal mit der EU vorlegen kann. Das sog. Benn-Gesetz wurde am Mittwoch, 4.9.2019, mit 327 zu 299 Stimmen angenommen. Daraufhin entzog Johnson denjenigen 21 Tory-Abgeordneten, die diesem Antrag zugestimmt hatten, die Parteizugehörigkeit; seither gehören diese Abgeordneten, darunter der Churchill-Enkel Nicholas Soames, dem Unterhaus als Unabhängige an. Und seither fehlt Boris Johnson eine Mehrheit im Unterhaus. Das Oberhaus stimmte dem Benn-Gesetz am 6.9. zu, damit war – so meinte man zunächst – ein No-Deal-Brexit definitiv vom Tisch.

Eine weitere, äußerst herbe Niederlage erlitt der Premier, als das Oberste Gericht des Vereinigten Königreichs am 24.9.2019 die von Johnson beantragte und von der Queen gebilligte Suspendierung („Prorogation“) des Unterhauses für den ungewöhnlich langen Zeitraum 10.9. bis zum 14.10.19 als rechtswidrig und nichtig erklärte.

Johnsons Suche nach einem neuen Deal

Am 2.10.2019 trafen Johnsons Vorschläge für ein abgeändertes Austrittsabkommen endlich in Brüssel ein, wo man schon lange Zeit auf konkrete Vorschläge und Lösungsansätze aus London gewartet hatte. Im Fokus stand dabei die im ursprünglichen Abkommen vom 17.12.2018 gefundene sog. Backstop-Lösung; diese sollte die Wiedererrichtung einer harten, physischen Grenze zwischen der Republik Irland und dem zum U.K. gehörenden Nordirland dadurch verhindern, dass das ganze Vereinigte Königreich in einer Zollunion mit der EU und Nordirland de facto im Binnenmarkt verbleiben sollten – solange bis in einem künftigen Abkommen zwischen dem Post-Brexit U.K. und der EU eine andere Lösung für die Grenzfrage gefunden werden würde. Der Backstop war also immer nur eine Übergangslösung; dennoch war Theresa May exakt daran gescheitert. Johnsons war deswegen als ihr Außenminister zurückgetreten. Der Backstop war sein rotes Tuch, gewichtigster Punkt in seinem konfrontativen, beinharten Brexit-Kurs, zu dem allerdings auch die Absicht gehört, die von May ausverhandelte Zollunion zwischen EU und dem U.K. nicht einzugehen.

Anfang Oktober 2019 also schlug Johnson in einer spektakulären Kehrtwende seiner bisherigen Position nun vor, dass Nordirland sich weiterhin an die Regeln des Binnenmarktes für Güter hält, gleichzeitig aber Teil der künftigen britischen Zollunion werden wird. Die Erhebung von Zöllen zwischen dem EU-Gebiet Irland und dem Vereinigten Königreich würde also nicht mehr an der Grenze zwischen den beiden Irlands nötig werden; diese könnte folglich eine offene grüne Grenze bleiben. Vielmehr würde eine Zollgrenze in der irischen See entstehen. Die anfallenden Zölle sollen durch hochkomplexe Verfahren punktuell und außerhalb des Grenzgebiets durch britische Beamte erhoben werden. Außerdem wollte Johnson dem Parlament Nordirlands das Recht zugestanden sehen, darüber zu entscheiden, ob diese Lösung auch nach der Übergangsfrist, die nach derzeitiger Planung bis Ende 2020 dauert, beibehalten werden soll; alle vier Jahre sollte das nordirische Parlament darüber abstimmen.

Kommissionspräsident Juncker wollte in diesen britischen Vorschlägen gewisse Fortschritte erkennen. Jedenfalls wurden auf dieser Grundlage die Verhandlungen über ein verändertes Austrittsabkommen wieder aufgenommen. Das war insofern klug, als Downing Street Nr. 10 angeblich bereits an einer Strategie feilte, der EU die Schuld an einem No-Deal-Brexit zuzuschieben, sollte sie sich nicht auf Johnsons Vorschläge einlassen.

Sehr nach Schwarzer-Peter-Spiel mutete dann auch die Nachricht aus eben dieser Downing Street Nr. 10 vom 8.10.2019 an, dass Johnson die Brexit-Verhandlungen aufgäbe, weil mit Brüssel wohl kein neuer Deal möglich sei. Diese Nachricht machte nach einem Telefongespräch zwischen Angela Merkel und Boris Johnson die Runde; London habe die deutsche Kanzlerin so verstanden, dass die EU nicht zu Kompromissen bereit sei. Berlin wies diese Lesart des Gesprächs zurück, hierin von Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rats, unterstützt, der die Schuldzuweisung an Merkel und Brüssel vehement zurückwies.

Halleluja: Es gibt einen neuen Brexit-Deal

Zur allgemeinen Überraschung einigten sich EU-Brexit-Unterhändler Michel Barnier und die britische Seite am 17.10.2019, kurz vor Beginn des wichtigen Treffens des Europäischen Rats, auf ein neues Austrittsabkommen. „Wo ein Wille ist, ist auch ein Deal – wir haben einen“ schrieb Kommissionspräsident Juncker auf Twitter. Juncker, der oftmals schon als das Urgestein des europäischen Einigungsprozesses bezeichnet worden war, zeigte dann auch die ihn auszeichnende Empathie: Zwar begrüßte er das neue Abkommen, bedauerte gleichzeitig aber zutiefst das sich nun konkreter abzeichnende Ausscheiden Großbritanniens aus der EU.

Das neue Austrittsabkommen übernimmt mit einigen Abstrichen Johnsons Vorschläge zur Lösung der Irland-Frage. Damit war die EU zu beachtlichen Kompromissen bereit. Ob diese oben skizzierten Regeln zur irischen Grenzfrage wirklich praktikabel sein werden, bleibt fraglich. Zweifel daran lassen sich Angela Merkels Kommentar entnehmen: „Die Quadratur des Kreises ist jetzt recht gut gelungen“, wird die Kanzlerin zitiert. Seit wann halten Physiker die Quadratur des Kreises für möglich?

In der allgemeinen, allerdings nur kurz anhaltenden Euphorie über das nun gelungene Durchschlagen des gordischen Knotens wurde nicht ausreichend gewürdigt, dass mit dem neuen Deal all die zahlreichen Ergebnisse des ersten Austrittabkommens vom 17.12.2018 ihre Gültigkeit behielten, u.a. und an erster Stelle die Vereinbarungen, die britische Bürger, die in der EU, und EU-Bürger, die im U.K. leben, dauerhaft vor Statusveränderungen schützen. Das Europäische Parlament, das dem Austrittsabkommen ebenfalls zustimmen muss, ließ verlautbaren, dass es seine entsprechenden Arbeiten erst dann finalisieren würde, wenn das britische Parlament dem neuen Vertrag zugestimmt habe.

Man könnte an dieser Stelle en detail den vom Europäischen Rat noch am 17.10.2019 angenommenen neuen Austrittsvertrag zwischen dem U.K. und der EU analysieren und die Veränderungen zwischen dem ersten und diesem zweiten Abkommen untersuchen und kommentieren. Diese Chronik möchte hierauf aber verzichten.

Kaum war das Abkommen von beiden Seiten akzeptiert, wurde deutlich, dass auch dieser Schritt mitnichten das Ende der Hängepartie Brexit bedeutete. Boris Johnson hielt die Drohkulisse eines No-Deal-Brexits zum 31.10. weiterhin aufrecht; auch verkündete er, dass er niemals in Brüssel eine erneute Verlängerung beantragen werde, „lieber liege ich tot im Graben“ („I’d rather be dead in a ditch“), tönte der britische Premier auf Pressefragen hin.

Der „not so super Saturday“

Doch dann kam der „not so super Saturday“, der 19.10.2019. In dieser samstäglichen Sondersitzung des Unterhauses, der ersten seit dem Falklandkrieg 1982, sollten die Abgeordneten nach Johnsons Wille seinen neuen großartigen Deal mit einem meaningful vote annehmen und damit das Brexit-Drama fristgerecht zum 31.10.2019 beenden. Doch der Konservative Oliver Letwin brachte einen Antrag ein, der erstens einen meaningful vote zurückwies und zweitens den Premier dazu verpflichtete, zuvor das gesamte Gesetzespaket verabschieden zu lassen, das das neue Austrittsabkommen in britisches Recht überführen wird. Da das Gesamtpaket den Abgeordneten an diesem 19.10. noch nicht bekannt war, sollten sie – so der Antrag – erst dann abstimmen, wenn sie es kennen würden. Das Letwin-Amendement wurde mehrheitlich angenommen und entfaltete zusammen mit dem bereits erwähnten Benn-Gesetz vom 4.9.2019 die Wirkung, dass Johnson gezwungen war, in Brüssel eine Verlängerung des Austrittstermins zu beantragen. Dies tat er noch in der Nacht auf Sonntag, 20.10., allerdings auf spektakuläre, man könnte auch sagen demokratieschädliche Art. Denn er schickte drei Schreiben nach Brüssel, ein erstes, nicht unterschriebenes, das formal die Verlängerung beantragte; damit stellt sich Johnson offen gegen das Unterhaus, ein ungeheuerlicher Vorgang in einer parlamentarischen Demokratie. Ein zweites, persönliches Schreiben richtete Johnson an Donald Tusk, in dem er eine Verlängerung als schädlich sowohl für das Vereinigte Königreich als auch die EU bezeichnete, und schließlich ein drittes, das den Generalsekretär des Europäischen Rats darüber informierte, dass das Brexit-Abkommen nun in den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess gegeben wird.

Dies geschah dann auch umgehend; noch am Montag, 21.10.2019, wurde das das Abkommen in britisches Recht übernehmende Gesetz ins Unterhaus eingebracht, was als erste Lesung gilt. Johnson hatte diesen so überaus wichtigen Gesetzgebungsprozess mit einem mehr als straffen, um nicht zu sagen erpresserischen Zeitplan verknüpft. Die Abgeordneten sollten über das Gesetz noch am Montag, 21.10., in einem meaningful vote abstimmen und es bis Donnerstag, 24.10., endgültig verabschieden. Zu diesem Zeitpunkt schien eine Annahme durch das Unterhaus möglich, die Financial Times vom 22.10. hatte 320 Stimmen für das Abkommen errechnet, 5 mehr als erforderlich.

Doch am Montagabend, 21.10., lehnte der Speaker John Bercow es ab, dass das Unterhaus erneut in einem meaningful vote über das Austrittsabkommen abstimmt. Ein solches sei bereits am Super Saturday im Zusammenhang mit dem Letwin-Amendement behandelt und zurückgewiesen worden. Folglich beschäftigte sich das Unterhaus ab Dienstag, 22.10., ohne erneuten meaningful vote mit der Gesetzgebung zum Brexit-Abkommen und zwar in zweiter Lesung.

Eine Mehrheit für Johnsons Austrittsabkommen – und doch kein Halloween-Brexit 

Zu Beginn dieser zweiten Lesung am 22.10.2019 erzielte Boris Johnson unzweifelhaft einen beachtlichen Sieg. Denn zum allerersten Mal kam eine Mehrheit für ein Brexit-Abkommen, dieses Mal für Johnsons Deal, zustande. Mit 329 Ja gegen 299 Nein-Stimmen fiel das Ergebnis wesentlich deutlicher aus als erwartet.

Doch diese Abstimmung war jenseits ihres symbolischen Charakters nur von nachgeordneter Bedeutung, da sie lediglich die Zustimmung dafür beinhaltete, dass das Gesetz zur Überführung des Brexit-Abkommens in britisches Recht in die zweite Lesung geht. Dass Sieg und Niederlage sehr eng beieinanderliegen können, musste Boris Johnson an diesem Dienstag, 22.10., ebenfalls erfahren; denn die Abgeordneten wiesen seinen Zeitplan mit 322 gegen 308 Stimmen zurück. Zuvor hatte Johnson der Opposition im Falle eines Scheiterns seines Zeitplans gedroht, dass er dann Neuwahlen erzwingen und die Gesetzgebung zum Brexit abbrechen werde. Letzteres geschah unmittelbar nach der Zurückweisung des Zeitplans. Denn die Regierung befürchtete, dass in einem ausführlichen, zeitintensiven Gesetzgebungsprozess es in der Ausschussphase zu zahlreichen Änderungsanträgen und damit zum Aufschnüren des Pakets kommen würde. In der Tat hatten Abgeordnete der Opposition mehrfach angekündigt, genau dies zu beabsichtigen, bis hin zu dem Labour-Vorschlag, ein zweites Referendum zu verlangen.

Nach diesen Entwicklungen war die Lage unübersichtlicher denn je – und dies im von Chaos, Durcheinander, Abgründen, Widersprüchen und immer neuen Volten doch so überaus reichen Brexit-Prozess. Wie war nach diesem Dienstag, 22.10., der Stand der Dinge? Eine grundsätzliche Zustimmung zu Johnsons Deal war erfolgt, aber nicht zu seinen zeitlichen Bedingungen, das Gesetzgebungsverfahren wurde abgebrochen, der Austrittstermin rückte dramatisch näher – wie sollte es nun weitergehen? Fest stand nur eines: Auch der zweite Austrittstermin, der 31.10., war nicht mehr zu halten. Es wird keinen Halloween-Brexit geben. Es muss in eine zweite Verlängerung gehen.

Dies veranlasste den Premier dazu, den Ball ins Feld der EU zu spielen. So meinte Johnson, zuerst müsse Brüssel über die von ihm beantragte Verlängerungsfrist befinden. Diesen Schwarzen Peter ließ Brüssel sich aber nicht zuschieben: Über die Länge der Verlängerung werde man ganz entspannt im sog. Umlaufverfahren – also ohne ein Treffen des Europäischen Rats – beschließen, aber erst, wenn London seinen Zeitplan für das weitere Vorgehen festgelegt habe, ließ Donald Tusk wissen.

Was Boris Johnson eigentlich will: Neuwahlen

Seit längerem wird spekuliert, dass Boris Johnson schon seit seinem Amtsantritt Neuwahlen anstrebt. In der Tat verfügt Johnson lediglich über eine äußerst dürftige Legitimationsbasis; er konnte nur mittels eines parteiinternen Auswahlverfahrens in das Amt des Premierministers aufsteigen. Im Juli 2019 hatten von 160.000 Tory-Parteimitgliedern rund 92.000 für ihn gestimmt. Außerdem verfügt er seit dem 4.9.2019 in Westminster über keine Mehrheit mehr.

Daher war es nur wenig überraschend, dass Johnson am 24.10. offiziell auf das Austrittsdatum des 31.10. verzichtete und gleichzeitig für den 12.12.2019 Neuwahlen forderte. Bereits am Montag, 28.10.2019, sollte das Unterhaus über seinen Antrag auf Neuwahlen abstimmen. Da ein britischer Premier seit Annahme des „Fixed-term-Parliaments Act“ 2011 für die Abhaltung von vorgezogenen Neuwahlen die Zustimmung von zwei Dritteln der Abgeordneten benötigt, musste Johnson dem Parlament „etwas anbieten“. Mit dem angedachten Datum des 12.12.2019 wolle er den Abgeordneten eine vernünftige Zeitspanne lassen, um die Brexit-Gesetzgebung zu behandeln. Danach müssten sich alle Parteien erneut einem Votum der Wähler stellen. Da nach seiner Befürchtung das aktuelle Parlament seinen Brexit-Deal nicht annehmen werde, müsse ein neugewähltes Parlament abschließend über den Austritt Großbritanniens beschließen. „Wir müssen diesen Albtraum beenden“, sagte Johnson in mehreren Fernsehinterviews.

Am 28.10. jedoch lehnte das Unterhaus Johnsons Antrag auf vorgezogene Neuwahlen mehrheitlich ab. 299 Abgeordnete votierten gegen den Antrag, 70 dafür. Mindestens 434 Stimmen wären für eine vorgezogene Neuwahl erforderlich gewesen. Labour enthielt sich mehrheitlich mit dem Argument, dass man Neuwahlen erst dann zustimmen könne, wenn ein No-Deal-Brexit definitiv ausgeschlossen ist. Das aber sei nur dann der Fall, wenn die EU eine Verschiebung des (zweiten) Austrittsdatums bewilligt.

In der EU-27 war in den letzten Tagen nicht das Prinzip einer Verlängerung, sondern lediglich die Dauer dieser Verlängerung umstritten. Frankreichs Staatspräsident Macron trat für eine eher kurze Verlängerung ein. Doch am Montag, 28.10., beschloss die EU-27, den Briten einen erneuten Aufschub bis spätestens 31.1.2020 zu gewähren. Sollte das Austrittsabkommen vorher unter Dach und Fach sein, können sie auch früher austreten; daher ist die Rede von einer flexiblen Verlängerung (flextension). An dieser entgegenkommenden Entscheidung zeigt sich erneut der eiserne Wille der EU, einen No-Deal-Brexit auf jeden Fall zu vermeiden. Für den Verlängerungszeitraum schließt die EU aber erneute Verhandlungen aus, auch muss London nun einen Kommissarskandidaten benennen.

Am Dienstag, 29.10., brachte Johnson einen Gesetzesentwurf ein, der Neuwahlen für den 12.12.2019 vorsieht; für seine Annahme war nur eine einfache Mehrheit nötig. Da mit dem EU-Verlängerungs-Beschluss ein No-Deal-Brexit nun bis zum 31.1.2020 ausgeschlossen war und weil Johnson in einer erneuten Volte versprach, sein Austrittsabkommen dem Parlament vor den Neuwahlen nicht mehr vorzulegen, stimmten 438 MPs dem Entwurf zu, 20 stimmten dagegen; damit wurde – die gar nicht erforderliche – Zweidrittelmehrheit von 434 Stimmen um vier zustimmende Voten übertroffen.

Ende des Brexit-Desasters?

Mit dem Beschluss zu Neuwahlen am 12.12.2019 hat Boris Johnson einen beachtlichen Sieg errungen und seinen Willen durchgesetzt. Ist damit nun ein geregelter Brexit im Rahmen des Austrittabkommens gesichert?

Dies hängt im Wesentlichen von zwei Dingen ab. Erstens vom Ausgang der Wahlen. Darüber soll hier nicht spekuliert werden; zwar sehen Umfragen die Tories derzeit klar in Führung, doch wird der Wahlkampf brutal und grausam werden und kann viele unabsehbare Dynamiken entfalten.

Zweitens stellt sich die Frage, ob Johnson – sollte er eine komfortable Mehrheit erzielen – wirklich an „seinem“ Austrittsabkommen vom 17.10.2019 festhalten wird; schließlich hatte er hierin beachtliche Kompromisse mit der EU eingehen müssen. Wird er zu seinem Deal stehen? Das Schreckgespenst eines No-Deal-Brexit, nun zum 31.1.2020, wird uns also weiterverfolgen.

Aber selbst wenn sich bis zum 31.1.2020 ein Ende des Endlosdramas Brexit erreichen ließe, bleiben die künftigen Beziehungen zwischen der EU-27 und ihrem dann Ex-Mitglied U.K. noch auszuverhandeln. Doch darüber wurde – abgesehen von der den Brexit-Deal begleitenden politischen Erklärung – noch kein Wort gesprochen.

Konkret bedeutet dies: Auch wenn die Scheidung spätestens zum 31.1.2020 vollzogen sein könnte, bleibt das dann auszuhandelnde Abkommen über die künftigen bilateralen Beziehungen ein Minenfeld; denn sollte dieses Abkommen nicht bis zum Ende der Übergangszeit fertig verhandelt sein, dann könnte erneut eine Situation der ungeregelten Beziehungen zwischen den beiden eng verknüpften Handelspartnern EU und U.K. entstehen. Schwierig dürften diese künftigen Verhandlungen auch deshalb werden, weil Boris Johnson auf eine möglichst große Distanz zur EU setzt. Die EU könnte sich also mit einem U.K. wiederfinden, das in vielen Bereichen ihre Regeln und Standards unterläuft und damit den Wettbewerb verzerrt. Ein „Singapur an der Themse“ schwebt ja vielen Brexit-Befürwortern als Endziel vor. Keine guten Aussichten.