Am Freitag, den 7. Juni 2019, trat Theresa May als Premierministerin des Vereinigten Königreichs zurück – das Ende einer unglücklichen Amtszeit, denn in ihrem Auftrag, das Land aus der EU zu führen, scheiterte sie. Mittlerweile hat das UK die erste Wahlrunde zur Bestimmung ihres Nachfolgers hinter sich. Doch wie kam es dazu? Versprechen diese Entwicklungen mehr Klarheit?

Endloses Chaos – ein knapper Rückblick

Bereits in meinem letzten Blog berichtete ich von Mays schallender Abstimmungsniederlage im Unterhaus, als sie diesem die Zustimmung zu ihrem mit der EU ausgehandelten Austrittsabkommen abringen wollte. Obwohl die Premierministerin das Abkommen in den folgenden Wochen zwei weitere Male zur Abstimmung brachte, gelang es ihr nicht, eine Mehrheit hinter sich zu bringen: noch nie sah sich eine britische Regierung mit so vielen solch klaren Abstimmungsniederlagen hintereinander konfrontiert.

Das Parlament stimmte vor diesem Hintergrund für die Durchführung einer Reihe von sogenannten indikativen Abstimmungen, bei denen alle möglichen Szenarien nacheinander abgestimmt wurden, darunter No Deal, ein zweites Referendum, einen Brexit mit Verbleib im Binnenmarkt, mit Verbleib in der Zollunion, ein Freihandelsabkommen, oder ein kompletter Verbleib in der EU. Das Ergebnis war jedoch erschütternd: keine einzige Option bekam eine Mehrheit im Unterhaus.

Da May weiterhin keinen Erfolg präsentieren konnte, erbat sie eine Verlängerung des Austrittszeitraums. Der Europäische Rat, der für die Gewährung einer solchen zuständig ist, kam dieser Bitte am 22. März nach und verlängerte die Frist zunächst bis zum 12. April 2019 (bzw. falls das Austrittsabkommen in der auf den Gipfel folgenden Woche doch noch ratifiziert würde bis zum 22. Mai 2019). Als auch diese Frist zu verstreichen drohte, gewährte man am 10. April eine weitere Verlängerung bis zum 31. Oktober 2019 – mit dem Zusatz, dass Großbritannien zum Anfang jeden Monats austreten könne, wenn bis dahin das Austrittsabkommen ratifiziert würde.

Die gewonnene Zeit bis zum 31. Oktober sollte genutzt werden, um in Gesprächen zwischen May und Jeremy Corbyn, dem Oppositionsführer und Labour-Parteivorsitzenden, einen überparteilichen Kompromiss zu erarbeiten, um so vor allem die politische Erklärung über die künftigen Beziehungen, die dem Austrittsabkommen angehängt ist, anzupassen und somit das Abkommen auf die Zielgerade zu bringen. Wochenlange Verhandlungen scheiterten jedoch – Corbyn zog sich aus den Gesprächen zurück.

May wagte einen letzten Versuch am 21. Mai mit der Vorstellung eines neuen Zehnpunkteplans, um den Austritt Großbritanniens aus der EU doch noch geregelt zu gewährleisten. Ihr Versuch, durch neue Zugeständnisse an die Opposition einen Durchbruch zu erreichen, scheiterte jedoch abermals. Zum einen gelang es ihr nicht, Labour-Abgeordnete durch diesen ‚New Deal‘ auf die eigene Seite zu ziehen. Zum anderen verursachte der Plan einen Aufschrei in ihrer eigenen Partei: Andrea Leadsom, May’s Leader of the House of Commons, trat zurück, und auch zahlreiche weitere Kabinettsmitglieder verurteilten den Ansatz – vor allem das Versprechen, eine Abstimmung im Unterhaus über ein zweites Referendum in Aussicht zu stellen. Dieser enorme Gegenwind sowie die Aussicht auf ein weiteres Misstrauensvotum gegen sie, veranlassten die Premierministerin, ihren Rücktritt zum 7. Juni anzukündigen.

Der neue Premierminister

May bleibt vorerst jedoch Regierungschefin bis ein Nachfolger gefunden ist. Obwohl das Rennen um den Tory Parteivorsitz bereits gestartet ist, wird dies noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Grundsätzlich handelt es sich dabei ‚lediglich‘ um Anwärter auf das Amt des Parteivorsitzenden der Tories, nach britischer Tradition wird der Vorsitzende der Partei mit den meisten Sitzen im Unterhaus jedoch üblicherweise Premierminister – im aktuellen Fall also der Vorsitzende der Tories. Durch eine Reihe von Abstimmungen unter den 313 Tory-Abgeordneten im britischen Parlament wird das Teilnehmerfeld um den Vorsitz, das nach zu Beginn zehn Anwärter umfasste, bis zum 20. Juni auf zwei Finalisten reduziert. Dabei müssen die Kandidaten im ersten Wahlgang jeweils mindestens 17 Stimmen und im zweiten Wahlgang mindestens 33 Stimmen auf sich versammeln, um in die nächste Runde zu kommen. Sollten nach zwei Wahlgängen noch mehr als zwei Kandidaten feststehen, wird in weiteren Wahlgängen jeweils der Kandidat mit den wenigsten Stimmen eliminiert. Erst wenn die beiden Finalisten feststehen, wird die Abstimmung an die ca. 160.000 Parteimitglieder der Tories gegeben, die ihren neuen Parteivorsitzenden in einer Stichwahl bestimmen. Ein neuer Vorsitzender soll so definitiv bis Ende Juli feststehen, der daraufhin von der Queen damit beauftragt werden wird, eine neue Regierung zu bilden. Eine formelle Wahl zum Premierminister ist nicht nötig.

Nach der ersten Abstimmung unter den Abgeordneten am Donnerstag den 13. Juni sind noch sieben Kandidaten im Rennen, die die erforderliche Anzahl von Stimmen erhalten haben. Während das Rennen an Fahrt aufnimmt, gehören vier Kandidaten zum Favoritenkreis:

  • Boris Johnson (114 Stimmen), ehemaliger Außenminister und prominenter Brexit Hardliner. Aus Protest gegenüber Mays Ansatz in den Verhandlungen trat er im letzten Jahr als Außenminister zurück und ist seitdem einer der größten Kritiker Mays. 39 Prozent der Tory-Mitglieder wünschen sich ihn als neuen Premierminister – damit hat er die meisten Unterstützer in der eigenen Partei.
  • Jeremy Hunt (43 Stimmen) ist aktuell Außenminister. Zwar trat er während der Referendumskampagne für Remain ein, änderte mittlerweile aber seine Meinung und spricht ebenfalls davon, dass No Deal am Ende ein akzeptables Resultat wäre. Er wird von acht Prozent der Parteimitglieder als erste Wahl genannt.
  • Michael Gove (37 Stimmen): Auch der aktuelle Umweltminister gilt als starker Leave-Befürworter. Er war eines der Störfeuer innerhalb Mays eigenem Kabinett. Jedoch ist er nur bei neun Prozent der Parteimitglieder erste Wahl.
  • Dominic Raab (27 Stimmen) war bis November 2018 Brexit Minister, trat jedoch aus Protest gegen Mays Abkommen zurück. Er ist gegen eine weitere Verlängerung des Brexit Prozesses und spricht davon, dass auch ein No Deal Szenario ein akzeptables Resultat wäre. Er wird von 13 Prozent der Parteimitglieder favorisiert.
  • Weitere Kandidaten im Rennen sind Sajid Javid (23 Stimmen, Innenminister), Matt Hancock (20 Stimmen, aktuell Gesundheitsminister), Rory Steward (19 Stimmen, Gesundheitsminister)
  • Nicht genügend Stimmen haben erreicht: Andrea Leadsom (11), Mark Harper (10), Esther McVey (9)

Es fällt zunächst auf, dass abgesehen von den Außenseitern Rory Steward und Matt Hancock alle verbliebenen Kandidaten dem Hardliner-Brexitlager zuzuordnen sind. Fest steht nach diesem ersten Wahlgang nun auch, dass Boris Johnson, sofern er in den kommenden Wahlgängen keine Unterstützer verliert, bereits sicher in die Mitgliederstichwahl einziehen wird. Da dieser auch unter den Tory-Mitgliedern viele Anhänger hat, ist Johnson nun klarer Favorit. Jedoch sollte man vorsichtig sein, den ehemaligen Außenminister bereits vorab zum Sieger zu erklären. Denn sowohl unter den Abgeordneten als auch unter den Mitgliedern wird er aufgrund seiner provokativen, populistischen Art so kritisch gesehen, dass ihn viele unbedingt als Premierminister verhindern wollen – das Ergebnis im Rennen um den Posten als Parteivorsitzender und Premierminister ist also noch immer offen.

Ein brisanter Sommer

Aufgrund der Suche nach einem neuen Premierminister erwartet das Vereinigte Königreich daher zunächst ein spannender Sommer: selbst wenn dieser das Amt angetreten haben wird, bedeutet dies keineswegs stabile politische Verhältnisse. Da die Tories aktuell keine eigene Mehrheit im britischen Unterhaus besitzen, waren sie bisher gezwungen, eine Minderheitsregierung unter Billigung der nordirischen DUP einzugehen. Diese Zusammenarbeit muss der neue Premierminister erhalten, um Neuwahlen zu vermeiden. Dazu werden neue Gespräche und Zugeständnisse nötig sein, um den Tories auch weiterhin die Unterstützung der DUP zu sichern.

Doch nicht nur das: auch die eigene Partei muss der neue Premierminister auf seine Seite bringen. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der stark europakritischen Äußerungen der momentan aussichtsreichsten Kandidaten für das Amt des Premierministers zu sehen. So haben bereits einige proeuropäische Abgeordnete der Tories angekündigt, einen stark europaskeptischen Premierminister wie Johnson selbst nach dessen Wahl nicht unterstützen und stattdessen in wichtigen Abstimmungen gegen die neue Regierung stimmen zu wollen. Sollte es diesem nicht gelingen, in den Anfangsmonaten seine gespaltene Partei hinter sich zu vereinen, ist ein von der Labour-Partei initiiertes Misstrauensvotum wahrscheinlich – das mit den Stimmen der proeuropäischen Tories auch gute Erfolgsaussichten hätte und somit wohl ebenfalls Neuwahlen nach sich ziehen würde.

Könnte es zu Neuverhandlung des Austrittsabkommens kommen?

Laut aktuell gültigem Beschluss zur Verlängerung der Austrittsfrist verlässt Großbritannien die EU am 31. Oktober 2019 – sofern das Unterhaus bis dahin nicht doch noch dem Austrittsabkommen zustimmt. Nach Mays Rücktritt ist dies jedoch unwahrscheinlich. Was erwartet uns also in den nächsten Monaten?

Der neue Premierminister wird in der ersten Zeit vorrangig damit beschäftigt sein, seine innerparteiliche Macht zu festigen. Eine sofortige Rückkehr an den Verhandlungstisch mit der EU scheint also schon aus innerbritischen Gründen nicht wahrscheinlich. Doch auch die EU hat bereits ausgeschlossen, das Austrittsabkommen neu zu verhandeln. Jegliche Ankündigungen der aktuellen Premierminister-Kandidaten, das Abkommen wieder zu öffnen, dürften also bei den übrigen 27 Mitgliedsstaaten auf Ablehnung stoßen. Es sei denn, der neue Premierminister könnte einen Plan präsentieren, mit dem in einem neuverhandelten Abkommen die roten Linien der EU – und vor allem die Backstop-Regelung um die nordirische Grenze – gewährleistet bleiben. In Anbetracht dessen, dass die Kandidaten bisher lediglich Vorschläge vorgebracht haben, die von der EU bereits als ungenügend eingestuft wurden, ist dies jedoch sehr unwahrscheinlich.

Womit die EU allerdings leben könnte, wäre eine Präzisierung der politischen Erklärung über die künftigen Beziehungen, die dem Austrittsabkommen angehängt ist. Dies war bereits Position unter May: durch einen Ausbau der bisher relativ vagen Erklärung könnte Erwartungssicherheit geschaffen werden, um eine Verabschiedung durch das britische Unterhaus zu ermöglichen. Abgesehen von diesen Feinjustierungen wird es nach einstimmiger Aussage der EU27 jedoch beim bereits im November 2018 von EU und der Regierung May ausgehandelten Austrittsabkommen bleiben.

Könnte es zu einer weiteren Verlängerung des Brexit-Termins kommen?

Was aber, wenn bis zum 31. Oktober erneut keine Einigung erreicht werden kann? Könnte es eine weitere Verlängerung des Austrittsprozesses geben, sodass der Brexit endgültig zur Endlosschleife wird? Fest steht, dass die Lust auf eine erneute Verlängerung sich bei beiden Seiten in Grenzen hält – weiterhin ist ein No Deal also das wahrscheinlichste Szenario. Die Gründe hierfür sind vielfältig.

Im UK wird in Kürze wohl ein euroskeptischer Premierminister regieren, der bereits in seiner Kampagne offen für einen No Deal Austritt geworben hat. Ob er diese Position auch beibehalten wird, wenn ein solches Cliff-edge Szenario kurz bevorsteht, wird sich zwar erst noch zeigen müssen. Jedoch wird der neue Premierminister kaum ein weiteres Mal Mays gescheiterten Deal, die einzige verbliebene Alternative, vor das Unterhaus bringen – besonders wenn dieser Boris Johnson oder Dominic Raab heißt, die beide aus Opposition gegen eben diesen Deal von ihren Ministerämtern zurückgetreten sind.

Auch auf Seite der EU27 besteht geringe Bereitschaft, den Austrittsprozess ein weiteres Mal zu verlängern. Man hat sich im April für eine abermalige Verlängerung entschieden, um May Zeit zu geben, durch Gespräche mit der Labour Partei einen überparteilichen Kompromiss zu erarbeiten. Dieser Versuch ist durchweg gescheitert: weder wurde ein Kompromiss gefunden, noch wird May das Königreich als Premierministerin weiter führen. Stattdessen wird die britische Politik den Sommer damit verbringen, einen neuen Premierminister zu bestimmen und diesen dann in seinem Amt zu konsolidieren. Die Chance, die die letzte Verlängerung also bringen sollte, wurde nicht genutzt. Es bleibt also zu bezweifeln, dass eine weitere Verlängerung auf einer solchen Basis gewährt wird.

Hinzu kommt, dass die Geduld auch bei den Staats- und Regierungschefs stark sinkt. Vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron spricht sich gegen eine weitere Verlängerung aus. Es fehlt schlichtweg der Glaube, dass nach monatelangem erfolglosem Ringen um einen innerbritischen Kompromiss mehr Zeit noch ein Durchbruch bewirken könnte.  Zu oft wurde die zugestandene zusätzliche Zeit nicht genutzt. Da ist sicherlich auch nicht hilfreich,  wenn den Staats- und Regierungschefs der EU27 künftig ein durchweg euroskeptischer Premierminister gegenübersitzt, der die EU kontinuierlich verteufelt hat oder aktuell gar androht, die Rückzahlung der britischen Schulden bei der EU zurückzuhalten, um einen besseren Deal zu erpressen, wie Boris Johnson als aussichtsreichster Kandidat dies derzeit tut. Der gute Wille, der May während der Verhandlungen oft entgegengebracht wurde, ist gegenüber solch einem Premierminister sicherlich nicht mehr zu erwarten. Die EU- Staats- und Regierungschefs möchten die Unsicherheit und die endlosen Brexit-Diskussionen beenden, um endlich Zeit für die großen Zukunftsfragen der EU27 zu haben.

Schließlich spricht ein dritter Grund gegen eine weitere Verlängerung. Nach den Europawahlen im Mai soll am 1. November die neue Kommission ihre Arbeit aufnehmen. Ein scheidender Mitgliedsstaat Großbritannien, mit dem man sich parallel in Austrittsgesprächen befindet, wäre hier ein schwieriger Partner, der die Arbeit der neuen Kommission und des neuen Parlaments aus verhandlungstaktischen Gründen zusehends behindern könnte. Dabei geht es nicht nur um die 29 Abgeordneten der Brexit-Partei von Nigel Farage, die im Europäischen Parlament einen Unruhefaktor darstellen würden; es geht vielmehr auch um wichtige Entscheidungen im Rat und im Europäischen Rat. Es wird befürchtet, dass Großbritannien diese Entscheidungen blockieren könnte, um bessere Austrittsbedingungen zu erpressen – beispielsweise den Beschluss eines neuen Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) für die kommenden sieben Jahre. Das Interesse, Großbritannien weiterhin als scheidendes Mitglied in der EU zu haben, ist also gering.

Eine erneute Verlängerung über Oktober hinaus könnte es aus Sicht der EU27 allenfalls nur dann geben, wenn zwei Bedingungen gleichzeitig erfüllt würden:

  1. Großbritannien müsste sich verpflichten, künftige Entscheidungen der EU (wie beispielsweise die Verhandlungen zum MFR sowie die Arbeit der Institutionen nicht zu torpedieren.
  2. Großbritannien müsste eine klaren Ausweg aus der derzeitigen Brexit-Blockade aufzeigen können. Ein solcher Plan könnte entweder einen neuen Ansatz beinhalten, wie das (evtl. adaptierte) Abkommen doch noch vom Unterhaus angenommen werden könnte, oder es müssten sich neue richtungsweisende Entwicklungen im Vereinigten Königreich abzeichnen, wie beispielsweise die Entscheidung für ein zweites Referendum oder für Neuwahlen des Unterhauses. Sollten sich solch neue Perspektiven abzeichnen, dann würde die EU sich einer erneuten Verlängerung des Brexit-Termins über den Oktober 2019 hinaus wahrscheinlich nicht verschließen.

Sollten diese beiden Bedingungen nicht erfüllt werden, dann droht definitiv als einzig verbliebenes Szenario ein Brexit unter No Deal-Bedingungen.