Der Europäische Rat vom 19. und 20.10.2017 hatte eine komplizierte Agenda unter schwierigen Verhältnissen abzuarbeiten. Denn etliche Teilnehmer waren eben abgewählt worden bzw. stehen vor schwierigen Regierungsbildungen zu Hause. Das trifft auf Deutschland, Österreich und Tschechien zu; oder sie stehen – wie Spanien wegen des ungeklärten katalanischen Unabhängigkeitsstrebens – unter gewaltigem Druck. Hinzu kommt der Brexit-Blues, der derzeit die EU durchflutet.

An diesen Rahmenbedingungen gemessen, hat der Europäische Rat routiniert seine Kompromissfindungs- und Vertagungsarbeit geleistet, was allerdings die Erwartungen an den nächsten Gipfel im Dezember in die Höhe schraubt.

Die zentralen Gipfelergebnisse

Zunächst zu den zentralen Gipfelergebnissen: Der Europäische Rat konnte sich nicht auf einen Abbruch der Beitrittsgespräche mit der Türkei einigen; damit zeigte er deutlich, dass er sich nicht von im deutschen Bundestagswahlkampf geäußerten Position in die Pflicht nehmen lässt. Bekanntlich hatten sich die beiden Kanzlerkandidaten Merkel und Schulz während ihres TV-Duells vom 3.9.2017 völlig unerwartet für einen offiziellen Abbruch der EU-Türkei-Beitrittsgespräche ausgesprochen.

In den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats findet sich unter Punkt 17 nun der lapidare Satz: „Der Europäische Rat führte eine Aussprache über die Beziehungen zur Türkei.“ In der Presse wird berichtet, dass Merkel eine Debatte zu den Beitrittshilfen durchsetzen konnte, die die EU im Umfang von rund vier Milliarden Euro bis 2020 an die Türkei leistet. Diese Gelder könnten nun umgewidmet werden, etwa für Flüchtlingshilfen; sie sollen aber weiterhin der Türkei zu Gute kommen.

Hier ist bereits die enge Verknüpfung zwischen der Frage des Türkei-Beitritts und dem Thema Migration und Flüchtlinge sichtbar. So gibt der Europäische Rat ein  „uneingeschränktes Bekenntnis zu unserer Zusammenarbeit mit der Türkei auf dem Gebiet der Migration und zur Unterstützung für den westlichen Balkan“ ab. Weiterhin bekennt sich der Europäische Rat zum Ziel der „Sicherstellung der vollständigen Kontrolle der Außengrenzen“ und strebt „deutlich verstärkte Rückführungen“ abgelehnter Asylbewerber an.

Mit Blick auf die Zukunft möchte der Europäische Rat „so bald wie möglich ‚Zurück zu Schengen‘“ gelangen und in der ersten Jahreshälfte 2018 einen Konsens zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems erzielen. Das „digitale Europa“ nimmt in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats breiten Raum ein.

Die EU-27 auf dem Weg zu einer Sicherheits- und Verteidigungsunion?

In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, dem neuen und großen Zukunftsprojekt der EU, werden „erheblichen Fortschritte“ bei der Realisierung der sog. Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO, Permanent Structured Cooperation, nach Artikel 46 EUV) begrüßt. Da einige Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland und Frankreich, hier in den letzten Monaten vorangeprescht sind, stellt der Europäische Rat in Aussicht, dass „die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit noch vor Ende des Jahres eingeleitet werden [könnte], mit dem Ziel […] der Einleitung erster Projekte.“

Das ist in der Tat beachtlich und scheint zu belegen, dass die EU angesichts von Brexit und Trump tatsächlich ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik vermehrt selbst in die Hand nehmen will, wie unter anderem von Kanzlerin Merkel in ihrer inzwischen berühmten Truderinger Rede vom 28. Mai 2017 gefordert.

Damals hatte Angela Merkel in Reaktion auf zahlreiche Affronts des amtierenden US-Präsidenten gegen die EU und die NATO gesagt: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei und deshalb kann ich nur sagen, wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen“. Ex-Außenminister Joschka Fischer hat diesen Merkel’schen Aufruf trefflich als “Geist von Trudering“ gewürdigt (Süddeutsche Zeitung, 9.6.2017). Zwar wird es noch ein langer, ein sehr langer Weg zu einer veritablen EU- Sicherheits- und Verteidigungsunion sein; dennoch sind hier zweifelsohne Fortschritte und eine neue Entschlossenheit festzustellen.

Brexit-Verhandlungen – keine Lösung in Sicht

Obgleich im Vorfeld der Europäischen Ratstagung viel über Brüsseler Zugeständnisse an die schwer angeschlagene britische Premierministerin Theresa May die Rede war, sind diese nur äußerst dezent ausgefallen. In der „Artikel-50-Formation“ – so heißen die Beratungen der 27 EU-Staats- und Regierungschefs nun, wenn es um den Brexit geht – wurden „Fortschritte“ und „einige Fortschritte“ in Bezug auf den Rechtsschutz von EU-Bürgern im Vereinigten Königreich (und umgekehrt) sowie mit Blick auf die irische Grenzfrage begrüßt.

Da die finanziellen Verpflichtungen Großbritanniens der EU gegenüber „sich […] noch nicht in einer festen und konkreten Zusage des Vereinigten Königreichs zur Begleichung all dieser Verpflichtungen niedergeschlagen“ haben, möchte der Europäische Rat derzeitig noch nicht in die zweite Phase der Verhandlungen eintreten, die die künftigen Handelsbeziehungen regeln soll. Man konzediert den Briten lediglich, „interne vorbereitende Beratungen aufzunehmen“.

Im Dezember muss der Europäische Rat mehr liefern als letzte Woche

Einige der wesentlichen Entscheidungen wurden auf den kommenden Dezembergipfel verschoben. Nun ist es eine äußerst gängige Praxis des Europäischen Rats, strittige Themen zu vertragen, um bis zum nächsten Treffen Schnittstellen für gemeinsames Handeln zu identifizieren und an Kompromissen zu feilen. Das macht EU-Politik ja so mühsam, zeitintensiv und kleinteilig. Diesmal jedoch ist diese Strategie hochgradig gerechtfertigt, wegen  – wie bereits vermerkt – ungewisser Regierungsbildungen in einigen Mitgliedstaaten.

Auf dem Dezembergipfel aber sollte der Europäische Rat mehr liefern als letzte Woche. Er muss den neuen Pro-EU-Elan nutzen, der sich nach den Wahlen in den Niederlanden und vor allem in Frankreich entwickelt hat. Er muss – um in Jean-Claude Junckers Sprachbildern seiner Rede zur Lage der Union vom vergangenen September zu bleiben – den Wind in Europas Segeln nutzen, die Leinen losmachen und die Segel setzen. Das Fenster der Möglichkeiten werde nicht ewig offenbleiben, warnte er. Wie Recht er hatte angesichts neuer Gefahren wie Separatismus und Rechtsruck in einigen Mitgliedstaaten.

So gilt immer wieder aufs Neue Jean Monnets Diktum: „Europa wird sich in Krisen erschaffen und es wird in den zahlreichen Lösungen bestehen, dies es für diese Krisen findet“. Sinnlos also auf noch günstigere Winde zu warten, um EU-Europa zu festigen und zu stärken. Der richtige Zeitpunkt ist jetzt.