In den vergangenen Wochen wurde auf der europäischen, vor allem aber auf der deutschen und bayrischen Bühne ein Schauspiel aufgeführt, von dem man noch nicht sicher weiß, ob es in die Gattung Komödie oder Tragödie fällt. Zweifelsohne aber hat dieses beispielslose Spektakel vielfältige Konsequenzen für die Union von CDU und CSU, für die amtierende deutsche große Koalition, die nachbarschaftlichen Verhältnisse Deutschlands und nicht zuletzt für die Europäische Union als Ganze.

Die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel hat seit dem Herbst 2015 schon für sehr viel Streit und tiefe Zerwürfnisse zwischen CDU und CSU gesorgt. Doch nach dem im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 7.2.2018 gefundenen Kompromiss zur Flüchtlingspolitik muss dieses erneute, sehr heftige und unvorhersehbare Aufwallen des Konflikts doch überraschen.

CSU löst erneuten Asylstreit aus

Seinen Anfang hat das aktuelle Spektakel Mitte Juni mit der angekündigten, dann aber verschobenen Offenlegung des sog. „Masterplans zum Umgang mit Asylbewerbern“ von Bundesinnenminister Horst Seehofer genommen; dieser Masterplan enthält u.a. die Forderung nach Zurückweisung bestimmter Migrantengruppen direkt an den deutschen Grenzen. Da die Kanzlerin dies aus europapolitischen Gründen ablehnt, entbrannte binnen weniger Tage eine hitzige Debatte darüber, was passieren könnte, sollte der Innenminister gegen den Willen der Kanzlerin solche Zurückweisungen qua Amt anordnen. Müsste Merkel ihn dann auf der Grundlage ihrer Richtlinienkompetenz entlassen? Würde damit die Regierung platzen?

Als Bayerns neuer Ministerpräsident Markus Söder zeitgleich das Ende des „geordneten Multilateralismus“ gekommen sah, wurde die europäische Dimension dieses Streits offensichtlich. Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Gipfeltreffens des Europäischen Rats gewährte die CSU der Kanzlerin einen zeitlichen Aufschub, damit sie in Brüssel ihren EU-Kollegen „wirkungsgleiche“ Maßnahmen abverlangen könnte, hatte jedoch die Chuzpe bzw. die Unverschämtheit, dies als Ultimatum zu bezeichnen.

Angesichts dieser Lage konnte ein großes Rätselraten darüber nicht ausbleiben, was die CSU mit dieser Dramaturgie eigentlich beabsichtigte: Handelte es sich um die Fortsetzung des Machtkampfes zwischen Söder und Seehofer? Oder zwischen Seehofer und Merkel? Oder ging es doch vorrangig um die bayrischen Landtagswahlen im kommenden Herbst, um die Verteidigung der absoluten CSU-Mehrheit und den Versuch, die AfD so weit es geht klein zu halten? Welche Rolle spielte dabei der Versuch, vom Skandal um das Bamf (Bundesamt für Migration), für welches nun Seehofer zuständig ist, abzulenken? Man weiß es nicht.

Der Asylstreit vertieft die Spaltung der EU und hebelt wichtige Vorarbeiten aus

Der reguläre Gipfel des Europäischen Rats war auf den 28./29.6.2018 anberaumt. Doch um der unter dem immensen Druck des Seehofer‘schen Ultimatums stehenden Angela Merkel zu helfen, lud Kommissionpräsident Jean-Claude Juncker zu einem sog. Minigipfel ein, der am 24.6.2018 stattfand. Man wollte informell Lösungen in der EU-Asylpolitik vorbereiten. Da die flüchtlingspolitisch wenig kooperationsbereiten Osteuropäer dem Treffen fernblieben, suchten insgesamt 16 EU-Mitgliedstaaten nach Wegen zu einer rechtskonformen, gleichwohl restriktiveren Migrationspolitik. Denn nicht nur die CSU, sondern auch die neuen Regierungen Österreichs und Italiens  drangen auf schärfere Maßnahmen. Besondere Aufmerksamkeit galt der Frage, wie mit den auf See geretteten Migranten umzugehen sei. Italien möchte, das wurde angesichts der mehrtätigen Irrfahrt des NGO-Schiffs Aquarius deutlich, nicht länger diese zumeist vor den libyschen Küsten aus Seenot geretteten Menschen aufnehmen. Italiens Innenminister Salvini hat dieses Anlegeverbot inzwischen auch auf Schiffe von internationalen Rettungs- oder Grenzschutzmissionen ausgeweitet. Der Minigipfel erbrachte keine konkreten Lösungen, einig war man sich unter den 16 Teilnehmerstaaten aber, dass es für die Eindämmung der illegalen Migration europäischer Lösungen bedürfe, notfalls auch im Kreise „williger“ Staaten. Dies würde zu einer erneuten Gruppenbildung innerhalb der EU führen, eine nicht ungefährliche Entwicklung.

Auf das eine Woche später stattfindende Gipfeltreffen des Europäischen Rats hatten sich seit vielen Monaten große Hoffnungen gerichtet. Er sollte den Startschuss geben für das Großprojekt, der EU-27 eine verheißungsvolle Zukunft zu eröffnen. Er sollte die Dynamik aufgreifen und umsetzen, die sich mit Emanuel Macrons hochfliegenden europapolitischen Plänen eröffnet hatte. In der Tat standen die Chancen nicht schlecht, dass es vorangehen könnte, vor allem in Bezug auf eine weitere Konsolidierung der Eurozone und eine Vertiefung der sicherheits- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit der EU-Europäer, die ja schon Ende 2017 mit ihrem PESCO-Beschluss geradezu historische Schritte gewagt hatten.

Ende Mai/Anfang Juni 2018 war dann die neue deutsche großkoalitionäre Bundesregierung endlich so weit, Antworten und Gegenvorschläge auf Macrons Forderungen und Pläne zu formulieren, die der Staatspräsident in seiner inzwischen berühmten Europarede an der Pariser Sorbonne am 26.9.2017 erstmals publik gemacht und seither mit großer Hartnäckigkeit verfochten hatte.

Auf der Grundlage dieser deutsch-französischen Vorschläge wurde dann ein deutsch-französisches Ministertreffen anberaumt, das am 19.6.2018 auf Schloß Meseberg stattfand. Obwohl das Treffen bereits von dem erneuten Asylstreit innerhalb der Union überschattet war, konnten erstaunlich weitreichende gemeinsame Initiativen verabredet werden, so insbesondere die Vorschläge, durch eine europäische Interventionsinitiative eine gemeinsame strategische Kultur herauszubilden, die Wirtschafts- und Währungsunion sowie den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) weiterzuentwickeln, ein Eurozonen-Budget zu schaffen, Forschung, Innovation und Digitalisierung zu forcieren und die EU-Institutionen zu reformieren, v.a. durch Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik und eine Verkleinerung der Kommission. Auch transnationale Wahllisten soll es bei der Europawahl 2024 geben. Mit Blick auf das Konfliktthema Migration und Asyl schlagen Deutschland und Frankreich in der Meseberg-Erklärung u.a. vor, die Anreize für Sekundärmigration in der künftigen, reformierten Dublin-Verordnung zu reduzieren und längerfristig ein Europäisches Asylbüro einzurichten, das an den EU-Außengrenzen für Asylverfahren zuständig sein wird. Selbstredend betont die Meseberg-Erklärung, wie wichtig es ist, europäische Lösungen zu verfolgen, „einseitige, unkoordinierte Maßnahmen“ würden Europa weiter spalten.

Weil die Logik der deutsch-französischen Motorenrolle in der EU es so will, waren damit gute Voraussetzungen geschaffen, dass das Gipfeltreffen vom 28./29.6.2018 in greifbare Fortschritte münden könnte.

Ein vom Asylstreit gekapertes Gipfeltreffen

Aber es kam anders. Der Europäische Rat wurde gekapert, er wurde weitgehend dominiert vom Streit über die Flüchtlingspolitik. Das hat einige positive sowie gravierende negative Folgen.

Zu den positiven Aspekten zählt, dass der seit 2015 in der EU schwelende Streit um eine angemessene Flüchtlingspolitik erneut offen thematisiert wurde. Denn neben all den anderen die EU belastenden Themen wie Brexit, Spannungen in den transatlantischen Beziehungen, wachsende illiberale Tendenzen in einigen, vor allem östlichen EU-Mitgliedstaaten etc. hat insbesondere die Flüchtlings- bzw. Migrationsfrage Europa gespalten. Hier nun erneut Tacheles zu reden, die Absurditäten und Ungerechtigkeiten des Dublin III-Abkommens aufzuzeigen und offenzulegen, dass der ungeheuer große Migrationsdruck, der vor allem aus Afrika kommend auf die EU einwirkt, nicht allein durch Asylregeln zu bewältigen ist, ist daher als positiv zu bewerten.

Denn Angela Merkel, die in großen Ausmaß für das Zukleistern der wahren Herausforderungen der Migrationsthematik verantwortlich ist, hat ja damit Recht, dass sie in ihrer Regierungserklärung vom 28.6.2018 die Migration als mögliche „Schicksalsfrage der EU“ bezeichnete. Dass sie diese erneute und wohl verschärfte Erkenntnis auch dem Druck der CSU verdankt, hat sie in ihrer verhaltenen Rhetorik mehrfach dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie ihn als Ansporn betrachte, auf europäischer Ebene Lösungen zu suchen.

Diese europäischen Lösungen finden sich in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats vom 28.6.2018 (EUCO 9/18). Der Kampf gegen „das Geschäftsmodell der Schleuser“ sowie der Schutz der Außengrenzen sollen erneut verschärft werden. Mit den Herkunftsländern müssen effektive Abkommen geschlossen werden. Besondere Betonung erfährt – ebenfalls nicht zum ersten Mal in Schlussfolgerungen des Europäischen Rats – die Bekämpfung der Fluchtursachen, insbesondere die Partnerschaft mit Afrika. Neu ist, dass für die aus Seenot geretteten Migranten eine Sonderlösung gefunden wurde; sie sollen bis zur Klärung ihres Status‘ in „kontrollierte Zentren“ auf EU-Boden gebracht werden, die die „Mitgliedstaaten auf rein freiwilliger Basis“ einrichten. Die Kommission wird aufgefordert, das „Konzept regionaler Ausschiffungsplattformen“, außerhalb des EU-Territoriums angedacht, mit den betreffenden Drittländern auszuloten.

Außerdem wird auf die großen Fortschritte bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems hingewiesen. In der Tat könnten bis Ende Juli 2018 fünf weitgehend unstrittige EU-Gesetze beschlossen werden. Dies kann aber nicht vergessen lassen, dass die zwei heftig umstrittenen Gesetzesvorschläge es in sich haben und den Kern des europäischen Asylstreits ausmachen: Bei der Reform der Dublin-Verordnung soll eine solidarische Verteilung von Schutzsuchenden sowie beschleunigte Verfahren zur Rücküberstellungen innerhalb der EU erreicht werden.  Doch diese Punkte sind seit Jahren hochgradig umstritten, eine Lösung in Richtung einer gerechteren Lastenverteilung zeichnet sich mitnichten ab. Ebenfalls noch umstritten ist die künftige Asylverfahrensverordnung, die u.a. einheitliche Sanktionen bei Missbrauch wie beispielsweise der unerlaubten Weiterreise verhängen soll. Bis diese Gesetze beschlossen sind, könnten die Mitgliedstaaten – so der Vorschlag der Kommission – die Rücküberstellungen auf dem Wege zwischenstaatlicher Vereinbarungen beschleunigen. Diese Lösung wird dann auch den innerdeutschen Asylstreit prägen. Insgesamt zeigt sich jedoch, dass die innerhalb der EU strittigen und heiklen Punkte exakt jene sind, die auch Anlass des Seehofer‘schen Vorstoßes waren. Zentrales Streitthema ist und bleibt folglich die ungerechte Lastenverteilung.  Und es zeigt sich weiterhin, dass auch die jüngsten EU-Migrationsbeschlüsse weitgehend auf Sand gebaut sind, sowohl hinsichtlich der geplanten „kontrollierten Zentren“ (wer möchte die schon haben?) als auch mit Blick auf die Herkunftsländer, von deren Kooperationsbereitschaft man bei Rückführungen abgelehnter Asylsuchender ja abhängig ist. Die „regionalen Ausschiffungsplattformen“ haben Tunesien, Marokko und Libyen inzwischen bereits abgelehnt.

Wichtige Reformprojekte des Gipfeltreffens bleiben auf Halde

Die äußerst negativen Folgen des vom Asylstreit „gekaperten“ EU-Gipfels sind nun darin zu sehen, dass zahlreiche andere, sehr wichtige Reformprojekte liegen geblieben sind, wie insbesondere konkrete Schritte zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion und zur effektivierenden Reform der EU-Institutionen. Auch der Vorschlag, für die Eurozone einen eigenen Haushalt einzurichten – wichtiger Bestandteil der deutsch-französischen Erklärung von Meseberg – wurde vertagt. Das soll nun nicht heißen, dass es allein Zeitmangel während des „gekaperten“ EU-Gipfels war, der solche Beschlüsse verhinderte. Vielmehr besteht innerhalb der Eurozone großer Dissens, ein Eurozonen-Budget stößt auf den Widerstand der von den Niederlanden angeführten sog. Hanseatischen Liga. Aber die Verdrängung wichtiger Reformprojekte durch den Asylstreit lieferte den Vorwand dafür, sich auf später zu vertagen und Entscheidungen hinauszuschieben. Dabei hätte der Juni-Gipfel doch der Gipfel der Entscheidungen werden sollen und müssen, in einem internationalen Kontext, in dem die Demonstration EU-europäischer Entscheidungsfähigkeit hochnotdringlich gewesen wäre.

Der Tragödie letzter Teil

Nach der mehrtägigen Komödie um den Rücktritt von Innenminister Seehofer, die im Rücktritt vom Rücktritt und einem erneuten unionsinternen Asylkompromiss mündete, schaltete sich schließlich auch der Koalitionspartner SPD in die Debatte ein. Letztendlich stimmte sie dem Kompromiss von CDU und CSU zu, dass es an den deutschen Grenzen Schnellverfahren für jene Flüchtlinge geben soll, die bereits in einem anderen EU-Staat einen Asylantrag gestellt haben. Für in einem anderen EU-Staat lediglich registrierte Migranten soll ein gesondertes, aber ebenfalls beschleunigtes Verfahren eingeführt werden. Beides setzt Vereinbarungen mit den europäischen EU-Nachbarn voraus. Erst wenn diese erzielt sind, könne der neue Asylkompromiss in Kraft treten, so SPD-Chefin Andrea Nahles. Für ihre Zustimmung erkämpfte die SPD die Zusage der Unionsparteien, bis Jahresende ein Einwanderungsgesetz zu erarbeiten. Damit wird endlich der Tatsache Rechnung getragen, dass Asylrecht und Flüchtlingsschutz das Problem der massenhaften Armutsmigration nicht lösen können.

Der Tragödie letzter Teil besteht nun darin – und damit optiert die Verfasserin für die Gattung: Tragödie –, dass der ganze Asylstreit der letzten Wochen faktisch wenig bringt. Zum einen sind es laut Bundesinnenminister Seehofer derzeit lediglich fünf Personen pro Tag, die nach dem neuen Kompromiss sofort an den Grenzen zurückgewiesen werden könnten. Hat es sich gelohnt, dafür eine solche Krise auszulösen? Zum anderen ist Seehofer bei seinen ersten Gesprächen mit Österreichs Regierung an der „Wiener Wand abgeprallt“ (Süddeutsche Zeitung, 6.7.2018). Ob es bei den nächsten Gesprächen in Innsbruck mit Österreichern und Italienern besser läuft, darf bezweifelt werden. Viel Lärm um nichts also.

So hat der jüngste Asylstreit zwar das Bewusstsein für all die zahlreichen Unzulänglichkeiten der derzeitigen Regeln befördert; dafür war aber ein hoher Preis zu entrichten: Die große Koalition stand nur wenige Woche nach Amtsantritt direkt am Abgrund, was an ihrer künftigen Stabilität zweifeln lässt; insbesondere zwischen CDU und CSU kann der Konflikt jederzeit und unvermittelt wieder neu aufbrechen. Dies könnte dann bald schon der Fall sein, wenn mit den Nachbarn keine Rücknahme-Vereinbarungen zustande kämen. Weiterhin hat nun neben Österreich und Italien auch Deutschland dazu beigetragen, weltweit den Eindruck zu erwecken als gäbe es in Europa kein wichtigeres Thema als die Flüchtlinge. In einem internationalen Kontext, der vom Heraufziehen eines gigantischen Handelskriegs gekennzeichnet, vom Zerfall des Westens und der liberalen Weltordnung geprägt ist – von übergeordneten Gefahren also –, hätte die EU all ihre Kraft sammeln und bündeln müssen, um sich auf diese Herausforderungen einzustellen. Stattdessen lässt sie sich von Populisten aller Art in Geiselhaft nehmen, suhlt sie sich in ihrer Zerrissenheit, zelebriert ihre Spaltung – welch eine Tragödie!